Buch_2



3.0 Information


Untersucht werden soll der Fluß, sprich die Aufnahme, Wandlung und Weiterleitung strukturierter Energie, die z.B. in Form der Wahrnehmung, in Form von Befehlsempfang und -ausführung stattfindet. Natürlich bleibt es dabei, daß Energie keine Information und Information keine Energie ist. Aber jede Aufnahme von Information ist mit der Übertragung und Wandlung von Energie verbunden. Die Farbe eines Signals, der Ruf eines Vogels, der Stoß eines Ellenbogens oder das durch die Schrift strukturierte Licht einer Buchseite sind zunächst nur mechanische, pneumatische (Schall-) oder optische Energien, die unsere Sinnesorgane treffen. Ob sie zu Information werden, ist bekanntlich eine Frage der Verarbeitung. Von den zahllosen fluktuierenden Energien (Strahlen, Schallwellen, Stößen, Gerüchen...) werden nur wenige zu Reizen und von den zahllosen Reizen nur wenige zu Informationen. Energie muß zwecks Wahrnehmung einen Rezeptor treffen und sie muß zwecks Identifikation ihres Sinnes, ihres Absenders bzw. seiner Absicht, irgendwo Resonanz finden. (Das von einem Hund reflektierte und strukturierte Licht muß auf lichtempfindliche Zellen treffen und dorthin weitergeleitet werden, wo es mit einer bereits gelernten Struktur Footnote übereinstimmt - Resonanz findet - und die Erkenntnis generiert “da ist ein Hund”.)

 

Die Selektion des Lebenswichtigen aus dem Überfluß aller Umweltzumutungen (aller auf uns wirkenden Einflüsse / Energien) findet statt durch Resonanz, also durch Übereinstimmung des im Kopf Vorhandenen, das durch Lernen erworben wurde mit dem, was über die Sinne von außen eintrifft. Die Resonanz kann auch Selektion genannt werden, weil sie alles, was keine Übereinstimmung zeigt, unberücksichtigt läßt. Sie, die Auswahl beginnt schon bei den Sinnesorganen, die nur für die Wechselwirkung mit einem bestimmten Spektrum und Ausschnitt aller möglichen Energiestrukturen geeignet sind; sie setzt sich fort mit dem Gelernten, das als Weltbild nur geringe Ausschnitte der Welt enthält und sie endet bei der Aufmerksamkeit, die wiederum nur einem Ausschnitt jener Ausschnitte zugewandt ist.

 

 

Hier geht es um die Bedeutung von Nachrichten, Signalen, Anweisungen usw., keinesfalls um ihre Übertragungsweise, um ihre Verluste oder Redundanzen. Letztere werden von der sog. Informationstheorie behandelt, die in diesem Zusammenhang besser als Nachrichtentechnik zu bezeichnen ist. Sie beschäftigt sich ausdrücklich nicht mit den Fragen der Bedeutung.

 

Von außen, d.h. wenn man nicht selbst der Empfänger ist, erkennt man die Tatsache, daß Information stattgefunden hat, nur an der Reaktion. (Man selbst könnte ja durchaus etwas wahrgenommen / erkannt haben, aber sich nichts anmerken lassen.) Erst die Art der Reaktion teilt uns mit, ob Information stattgefunden hat oder nur Einwirkung.

 

Der Warnruf eines Aufmerksamen, sagen wir im Straßenverkehr, verrät mir eine nahende Gefahr, der ich im Sprung ausweiche - Information. Zweitens: der Warnruf erschüttert zwar mein Trommelfell, aber ich reagiere nicht, weil mich etwas anderes beschäftigt - keine Information, nur rein mechanische Wirkung. Drittens: der Ruf ist so laut, daß ich erschrecke, ohne ihn aber zu verstehen - kaum Information, allenfalls über die Lautstärke. Das Kriterium für Information ist also nicht nur eine Wirkung schlechthin, sondern eine Wirkung in Form einer Reaktion, die meinem Erhalt dient! Das wird ausgeführt, da es das entscheidende Kriterium für Information ist.

 

Die Wandlung von Information in Aktion, von Befehl in Ausführung geschieht in hierarchisch abgestuften Kaskaden zunehmender Energie, bewegter Materie, gezählter Menschen. Neben dem Modellcharakter von „Information“ für „funktionierende Hierarchie“ gibt es eine weitere Notwendigkeit, den Mechanismus von Information zu klären: die Spur, die sie im rezipierenden Organ hinterläßt, nämlich das Gelernte, ist von entscheidender Bedeutung für die Möglichkeit, Sozietäten als aus Individuen zusammengesetzte Bereiche zu bewegen. Das Gemeinsame im Gelernten ist die Voraussetzung für jede Art von Steuerung oder induzierter gemeinsamer Bewegung. Es ist als Verstehen und Können die Voraussetzung der Folgebereitschaft und damit der Norm, die die Individuen als Bestandteile eines Ganzen zusammenwirken läßt.

 

Wie kein anderes Moment von Ordnung unterliegt der Begriff der Norm extrem zustimmender oder ablehnender Wertung. Diese interessiert hier jedoch nicht, da die Norm unabhängig davon eine Voraussetzung jeglicher Gemeinschafts-Wirksamkeit bleibt.

 

 

3.1    Stau und Lösung von Energie

 

Warum wird über Energie gesprochen, wenn es um Information geht? Weil wir nichts über uns oder die Welt erfahren, ohne daß in irgendeiner Form Energie übertragen, gelöst oder aufgenommen wird. Sogar die Intensität des reinen Denkens kann inzwischen gemessen werden als ein Energieumsatz bestimmter Hirnregionen. Nochmals: Energie ist keine Information und Information keine Energie, aber jede Wahrnehmung, jede Verarbeitung derselben, ja jeder Stimmungswechsel und sogar der nur im Bewußtsein stattfindende Bedeutungswechsel von Kippfiguren, also das “reine” Denken (Spektrum 1/2000,”Sehen und Bewußtsein”, S. 42 mitte) sind mit meßbaren Energieströmen verbunden. Auch das Licht einer Buchseite, durch die Schrift strukturiert, ist zunächst nichts anderes als (wenn auch durch deutbare Zeichen hoch strukturierte) Licht-Energie, die auf unsere Netzhaut wirkt. Was muß also mit der Energie geschehen, damit Information entsteht? Zunächst verfolgen wir ihren Lauf.

 

Bekanntlich kann Energie nicht entstehen und vergehen, sondern sie wird gespeichert oder freigesetzt, gestaut oder gelöst. Wir (Menschen) stauen Energie in Uhrfedern, Meilern, Speisekammern, Tanks, Kollektoren und Batterien. Die Biosphäre staut Energie durch Separierung des Kohlenstoffs (u.a. vom Sauerstoff) in der Atmosphäre und in Lagerstätten, die Pflanze staut sie in Zucker und Stärke, das Tier u.a. in Fett und Eiweiß. Die anschließende kontinuierliche, "kontrollierte" Lösung von Energie erhält alles Lebendige. Das Ende des Energieflusses ist der Tod. Wachstum, Reproduktion und Bewegung sind die Formen, in denen ein Organismus die von ihm aus Licht und Nahrung gewonnene Energie wieder abgibt. Stau und Lösung von Energie sind die Seinsweise des Lebendigen, ja des Laufs der Welt. Schon die Fixsterne verdanken ihr Dasein einem Energiefluß, d.h. der gesteuerten Lösung von Energie aus ihren Bestandteilen, den Atomen (Prigogine). Denn jede Veränderung, jede Reaktion, ja jede Bestätigung oder Rezeption wandelt, verbraucht und erfordert bereits Energie.

 

Ein Rätsel scheint hier nur die geradlinige gleichförmige Bewegung, eine Veränderung, die scheinbar ohne Energiewechsel stattfindet. Nun, was sich da bewegt, hat frühestens durch den Urknall seine Energie erhalten und wird sie bei einem Aufprall oder zumindest durch die Wechselwirkung mit anderer Materie wieder abgeben.

 

Die Frage, warum soziale Hierarchie eine so ausführliche Behandlung von “Energie” benötigt, beantwortet sich bei der Erklärung von “Information”. Es wird sich herausstellen, daß der Verlauf des Informiertwerdens dieselbe Struktur hat, wie die Wirkung eines Befehls auf die Truppe oder die Wirkung des Geldes auf die Ressourcen. Dabei ist Energie nicht nur der Träger der Information, sondern auch die Ressource, die an der Basis der Hierarchiepyramide in Form von Heizung und Verkehr, von Arbeit und Formgebung, von Kunstausübung und Abfall, aber auch von Wetterkatastrophen, in Form brennender Wälder, schmelzender Polkappen und unaufhaltsamer Kontaminierung unserer Umwelt das materielle Korrelat von erfüllten Wünschen und produzierenden oder marschierenden Massen bildet.

 

Wir verfolgen den Weg vom Anlaß, von der Mikro-, Informations- oder Steuerungsenergie zum Ereignis, zur gelösten Makro- oder Arbeits-Energie. Die Stufen, auf denen Information sich in Aktion wandelt, können sehr klein werden, sogar nur von der Wahrnehmung bis zum Verständnis reichen. Aber ohne Energie läuft nichts, nicht einmal Verständnis. Wo ist jetzt die Grenze, bei der man nicht mehr von Information, sondern nur von Aktion sprechen dürfte? Solange die ewige Harmonie sich nicht nur mit sich selbst unterhält, gehört die erhaltende Aktion - wenigstens die mögliche - zur Information wie die Pflanze zum Samenkorn. Denn ich kann kein Korn Samen nennen, solange es nicht eine Pflanze wenigstens ermöglicht. Und ich kann keine Energierezeption als Information erkennen, solange sie keine bereichserhaltende Reaktion zur Folge hat oder wenigstens ermöglicht.

 

 

 

 

 


 

3.2             Die Hierarchie als Voraussetzung

                  der Information

 

3.2.1          Statische Hierarchie

 

Atome können ein Molekül, kosmische Staubteilchen einen Stern, Zellorganellen eine Zelle, Bäume einen Wald, Häuser eine Stadt, Mitglieder einen Verein, Firmen einen Interessenverband, oder Menschen einen Staat konstituieren. Normteile bauen Bereiche. Wir betrachten einen Zustand, keinen Vorgang - die statische Hierarchie. Im Sprachgebrauch entspricht sie der Formalhierarchie. Sie ist vorwiegend Gegenstand bisheriger soziologischer Untersuchungen gewesen. Und die wird sozial im Wesentlichen durch die Hierarchie der Werte, durch die Anordnung der Menschen in Schichten beschrieben. In der Gesellschaft finden wir sie meist als Relikt einer ehemaligen Funktionshierarchie. Der Adel zB pflegte seinen verlorenen Rang durch die Zeichen seiner alten Würde, während die Ressourcenströme längst vom Bürger gesteuert wurden.

 

Die Zeichen der Formalhierarchie sind Grenzen, Marken, Mähnen, Orden, Fahnen, Bräuche und Gesetze. Der Aufbau, jedoch weniger die Funktion hierarchisch geordneter Bereiche [4], wird genauer untersucht zB in [6]. Hier ist jedoch nicht der Aufbau, sondern die Funktionsweise der Hierarchie das Wesentliche. Die im folgenden behandelte dynamische Hierarchie entspricht der Funktionshierarchie.

 

 

 

 

3.2.2 Dynamische Hierarchie

 

Während die statische Hierarchie den Aufbau hierarchisch organisierter Bereiche beschreibt, geht es bei der dynamischen um die Bewegungsweise. So kann die statische H. durchaus mit “Schichtung” oder “Enthaltensein” umschrieben werden, weil damit ein Zustand erfaßt ist. Im dynamischen Prozeß/Prozessieren sind Schichten oder Steuerglieder manchmal kaum separierbar; trotzdem wirken verschiedene “Vorhandenheiten” (Individuen, Schichten, Momente, Teile...) aufeinander so ein, daß sie sich in Abhängigkeit voneinander verändern. So steuern im Fixstern Verbrennung, Opazität und Dichte einander wechselweise, ohne daß sie örtlich abzugrenzen wären. In der Funktionshierarchie steuern Individuen eine Sozietät, ohne daß die Vollmachten dazu an ihre Person gebunden wären. Dynamische Hierarchie beschreibt also die Art und Weise dauerhafter oder wiederkehrender Einflüsse von Etwas - vorwiegend z.B. einer Einheit oder einer Minderheit auf Etwas anderes - z.B. auf eine Viel- oder Mehrheit.

 

 

3.2.3  Die Schwelle

 

Wie gezeigt, können Bereiche Energie speichern oder bereits gespeichert haben. In Gestirnen, Einzellern, Muskeln, Wäldern, Flözen, Tanks, Akkumulatoren, Speisekammern und Geschossen ist Energie gestaut worden. Diese Energie muß bei ihrem Stau gewissermaßen hinter eine Schwelle gehoben worden sein, da sie sonst sofort wieder regellos und ohne Anlaß gelöst worden wäre. Ohne Schwelle würde sie haltlos fließen in unendliche Verdünnung. Ohne die Schwelle wäre vom Urknall keine Materie, nichts als etwas Hintergrundstrahlung geblieben.

 

Im Lauf der Synthese und Bereichsbildung werden Elementarteilchen, Atome, Moleküle, Makromoleküle, Individuen oder Gruppen, kurz Normteile, über eine Zone der Abstoßung in die der Anziehung gehoben. Ermöglicht wird dies durch eine Eigenschaft der Normteile, die z.B, die gesamte Chemie bestimmt: Individuen stoßen sich bei Annäherung zunächst mit wachsender Kraft voneinander ab. Wird aber ein bestimmter Abstand unterschritten, ziehen sie sich an und gehen eine Verbindung ein. Die zur Vereinigung aufgewandte Energie ist anschließend in den so synthetisierten Bereichen gespeichert / geparkt / gestaut. Der Ausdruck “geparkt” würde beispielsweise der Tatsache Rechnung tragen, daß nichts stabil ist oder: daß es für alles, sogar für Protonen, eine Halbwertszeit gibt.

 

Das Muster scheint primitiv, doch findet es seine Entsprechung bis in die Sexualität, in Gast- und Völkerrecht: immer müssen die Teile über einen Widerstand in die Verbindung zum Ganzen gebracht werden. Eine Analogie zu menschlichen Gemeinschaften findet sich im Phänomen der Fremdheit, die im Fall rational einsichtiger Zusammenschlüsse überwunden werden muß. Auch hier gibt es eine Art Stau, eine innere Anstrengung der Individuen, die übergeordneten Zusammenhänge zu erkennen und sie gegenüber den näheren, emotionaleren, gewohnteren, einfacheren zu berücksichtigen und durchzusetzen. Brechen die größeren Einheiten unter zunehmendem Druck zusammen, werden diese Energien wieder freigesetzt. Auf dem Weg von der Union zur Ethnie, von der Ethnie zur Familie, von der Familie zum Ich fliegen die Teile auseinander, bis das Individuum - rette sich wer kann - nur noch sich selber sieht.

 

Bezüglich ihrer möglichen Wirkungen können Emotionen als die Energie von Sozietäten gelten. Emotionen drängen ihre Träger zur Tat, finden aber gegen oder ohne die Norm keine Abfuhr. Sie arbeiten in der Vereinzelung nur gegeneinander. Individuen als Angehörige von Bereichen erhalten erst durch Vereinigung und Gleichrichtung die Möglichkeit, Emotionen in konzertierten Aktionen ausbrechen zu lassen. Erst wenn viele Individuen in dieselbe Richtung wirken, addieren sich ihre Kräfte und bewegen das Ganze. Die Bannung in die Schicht, in Disziplin und Apparat, aus der der Ausbruch erfolgt, ist hier die Schwelle, die die Abfuhr verhindert und ggf. die Emotionen (z.B. unter Verdichtung) bis zur Unerträglichkeit ansteigen läßt. Die Energien, die auf den Ausbruch aus der Ordnung drängen, sind allerdings gezwungen, sich in eine neue Ordnung einzuregeln, wenn sie Wirkung haben wollen.

 

 

 

Mit der neuen Ordnung ist zunächst nur jene gemeint, die zur Destruktion der Alten nötig ist. Daher ist sie weit einfacher als die Alte und verlangt auch weit weniger an innerer Kanalisierung. Man erstzt den Staat durch die Partei. Mit dem Kollaps des Staates und der kurzfristig vereinfachten Ordnung gesunden die Individuen. Oder sagen wir: sie können einen Großteil der Disziplinierungen abwerfen, brauchen subjektiv vielleicht keine Psychiater mehr. Für eine Veränderung sind also zwei Schwellen zu überwinden: die Destruktion der Produktiv-Ordnung (Staat) und die Konstituierung der Bewegungs-Ordnung (Partei). Ohne die Schwelle würde das ständige Fließen der Ordnung, nämlich die Un-Ordnung den Fluß der Ressourcen unterbinden.

 

In der Technik ist die Schwelle als Hahn, Falle, Damm, Schloß, Wehr, Schalter, Ventil, Kollektor, Transistor etc. bekannt. In der Gesellschaft besorgt die alte erhaltende Norm, der Konservativismus, die Unterdrückung, die Mauer, die Grenze, das Gesetz oder der Mangel an Gelegenheit durch bewegungslosen Stau der Emotionen in hübscher Analogie das Geschäft der Schwelle. Dagegen wirkt die neue revolutionäre Norm bei aufscheinender Gelegenheit oder unerträglich werdenem Druck auf deren (der Emotionen) Freisetzung hin.

 

Sinn einer Schwelle ist es, die hinter ihr gestaute Energie zunächst festzuhalten und dann erstens leicht und zweitens auf Anforderung, sozusagen "bedingt" und kanalisiert lösen zu können.

 

 

3.2.4          Kleiner Anlaß, große Wirkung

 

Wir haben also meist zwei Schwellen: die erste bildet einen Widerstand gegen die Sammlung oder die Kumulation von Energie, die zweite hält die angesammelte Energie zusammen. Diese gegeneinanderwirkenden Prinzipien haben sei altersher ihr Bild in Attraktion und Repulsion, in Haß und Liebe gefunden. Wenn sie die stillen Kräfte, besser Widerstände sind, dann sind es Stau und Lösung, d.h. ihre Überwindung, die die Welt bewegen.

 

Wesentlich dabei ist, daß die Energie, die zur Senkung der Schwelle nötig ist, viel geringer sein darf als diejenige, die dadurch freigesetzt wird. Energie ist nicht nur ein brauchbares Analogon für Emotionen in Bezug auf ihren allmählichen Anstieg hinter einer Schwelle, sondern auch dafür, daß beide auf einen geringen Anlaß hin mit gewaltigen Folgen freigesetzt werden können.

 

Jeder weiß, daß es nicht der Fingerdruck auf den Knopf ist, der den Fahrstuhl hebt. Der Finger senkt nur den Widerstand, sprich die Schwelle, die den (dahinter gestauten) Starkstrom des Netzes vom Motor getrennt hatte. Desgleichen ist es nicht das Signal zum Aufstand, das die revolutionären Veränderungen hervorbringt. Sondern das Signal löst die revolutionären Energien in der Form des Aufstandes und dieser verändert möglicherweise die Gesellschaft. Dies ist der Fall, der die Redensart "kleine Ursache - große Wirkung" rechtfertigt. Ein Bezug zur Soziologie bleibt erhalten, wenn man sich unter “Energie” Emotionen vorstellt, die wie gezeigt zur Tat drängen und durch scheinbar geringfügige Anlässe zum Ausbruch kommen - zum geregelten, zielorientierten, gesellschaftsverändernden Ausbruch, wenn ihnen der Prozeß der Normung vorangegangen ist. Zum Fall ins Chaos, wenn keine Norm oder zu viele von ihnen existieren.

 

 

3.3  Reaktion


Reaktion wäre so gesehen nur induzierte Energielösung. D.h. eine geringe Auslöse- oder Signal-Energie, beispielsweise ein Schlag auf den Zünder, setzt die große gestaute Arbeits- oder Reaktions-Energie zur Sprengung frei. Nun können aber Bereiche, in denen Energie hinter einer Schwelle gestaut wurde, durch äußere oder innere, u.a. auch durch destruierende Einflüsse veranlaßt werden, ihre Energie so abzugeben, daß sie den zerstörerischen Einflüssen entgegenwirkt. Sie können sich diesen Einflüssen durch Bewegung entziehen, sie können Strahlung reflektieren oder abschatten, sie können aber auch ihre Umgebung so verändern, daß sie den Einflüssen erst garnicht ausgesetzt sind oder sie können sich vor ihrer Vernichtung reproduzieren. Was die lösende Energie (der Anlaß, die “Noch-nicht-Information”) mit dem Bereich macht, ist also wegen ihrer Geringfügigkeit unerheblich. Erst die durch sie Gelöste bringt eine Wirkung hervor. Das Licht des Signals verändert so gut wie nichts an der Eisenbahn. Aber seine Umsetzung über das Verständnis und den Arm des Lokführers und schließlich über die Starkstromkontakte setzt den Zug in Bewegung.

 

Das ist zu verdeutlichen: höre ich ein nahendes Auto, so werde ich von Schallwellen getroffen. Diese Schallwellen veranlassen mich, die in meinen Muskeln gespeicherte Energie so abzugeben, daß ich mich mit einem Schritt oder Sprung in Sicherheit bringe. Die Schallenergie, die bei einem Stein, einer Pflanze oder einem Tauben nichts (oder allenfalls eine unmerkliche Verformung oder Schwingung, vielleicht einen winzigen Materialverlust) bewirken würde, wird in meinem Fall bereichserhaltend verwendet. Voraussetzung dafür ist, daß sie (die von außen auftreffende Energie) in diesem bereichserhaltenden Sinne rezipiert werden kann. Sie muß zu Information werden. Zu Information wird sie nur, wenn sie auf ein Verständnis trifft. Verständnis ist hier das Gelernte, das mich ein Geräusch richtig, d.h. im Sinne meines Erhalts deuten läßt. Allgemein gesprochen muß eine Disposition vorliegen, die auf den beschriebenen (Schall-) Reiz die dauermehrende Reaktion folgen läßt. Man sieht wieder, daß die landläufige Informationstheorie mit diesem Gedanken nichts zu tun hat; es geht hier nicht um Übertragung, sondern um die Bedeutung von Signalen.

 

Der Bereich reagiert also; er hat zuvor z.B. durch eine günstige Mutation, durch Lernen oder als Sozietät durch die Implementierung einer entsprechenden Norm, die Fähigkeit zur REAKTION gewonnen. Er nutzt die induzierte Energielösung zur Sicherung seiner Dauer. Diese erhaltende Reaktion bestimmt durch ihre Vervollkommnung die Richtung der Evolution. Die andere Richtung wäre Zerstörung und Selbstzerstörung. Energie, die in Form von Zerfall, Ressourcenvernichtung, Einnahme von Gift, Waldbrand, als Wanderung der Lemminge, als Übervermehrung usw gelöst wird, reduziert den Bereich oder tilgt ihn als Gegenstand der Evolution und der Geschichte.

 

Wir sagen also nicht, Information sei Negentropie, sondern wir sagen: wenn ein Bereich veranlaßt wird, durch Lösung von Energie seine Dauer zu mehren, also Ordnung zu erhalten oder zu gewinnen, dann sei der Auslöser Information gewesen; dann erst soll er, der zunächst nur Schall, Druck, Licht, also Energie ist, Information genannt werden.

 

Wenn wir ohne die Begriffe “Erfahrung”, “Wissen”, “Lernen”, “Prägung”... über Information sprechen wollen, wenn wir vermeiden wollen, daß das zu Definierende in der Definition steckt, dann können wir nun “Information” definieren. Wir haben dazu ein Kriterium an der Hand, das uns erlaubt, bloße Energie von Information zu unterscheiden: wir müssen prüfen, ob der Bereich im Nachhinein - bedingt durch jene Auslöse-Energie - mit Hilfe der Reaktion seine Dauer gemehrt hat.

 

 

3.3.1          Information und Ordnung

 

Wir sahen, daß die einwirkende Energie dann zu Information wird, wenn sie zu einer bereichserhaltenden Reaktion führt. Auch Lernen (auf das zunächst keine sichtbare Reaktion folgen muß) kann in diesem Sinne eine Reaktion sein, weil es durch Veränderung der inneren Disposition (z.B. der Synapseneinstellungen) künftige bereichserhaltende Reaktionen erlaubt. Es geht tatsächlich um den Erhalt von Bereichen, Funktionen, Vielfalt, vor allem Leben, also Ordnung. “Geist”, “Verstand”, “inneres Bild” werden hier noch nicht gebraucht, um die Konfiguration von Materie / Energie zu beschreiben, die zur Information führt. Wir sagen nur, ein Auslöser muß Ordnung erhalten oder gemehrt haben, damit er als Information angesprochen werden darf.

 

         Es läßt sich daher wahrscheinlich nicht vermeiden, daß man beim Versuch „Information“ zu fassen, bei „Ordnung“ landet - einem noch schwierigeren Begriff. Seis drum; wir gehen zurück zum Alltagsverständnis. Mit “Norm”, “Hierarchie”, “Interdependenz” und “Tradierung” nach Riedl (zB “Ordnung des Lebendigen”), dazu vielleicht Konturschärfe oder Gradient hat man schon wesentliche Momente von “Ordnung” erfaßt. Und wenn deren Maß zu- oder wenigstens nicht abnimmt, dann hat man das, was hier als Ordnungsmehrung oder “Bereichserhalt” beschrieben wurde.

 

         Nochmals: wenn ich sage, Information sei das, was ich erfahre, was mein Wissen mehrt, was mich von Veränderungen unterrichtet usw. dann bleibe ich mit meinen Begriffen immer im Umkreis von Information. „Erfahrung“ oder „Unterrichtung“ ist ja gerade das, was ich suche. Sage ich aber, Information sei der Anlaß, Ordnung zu erhalten oder zu mehren, dann bin ich aus diesem Kreis ausgebrochen. Ich definiere „Information“ mit Hilfe eines Begriffes, der nicht in ihr enthalten ist. Aber ich habe mit „Ordnung“ natürlich einen Begriff eingeführt, der neue Abgründe aufreißt. Ein anderes Feld.

 

 

         3.4 Die mehrstufige Hierarchie

 

         Nun kann der Aufwand, die Schwelle zu senken, hinter der die (für die erhaltende Reaktion) benötigte Energie gestaut ist, so groß werden, daß er den Bereich selbst gefährdet oder daß dieser zu spät bzw. gar nicht reagiert. Ein Bereich mit unsensiblen Rezeptoren kann beispielsweise nur auf die zerstörerischen Einflüsse selbst, nicht aber auf ihre meist schwächeren Vorboten (wie zB das Licht, das mir als optische Erscheinung eine Gefahr ankündigen kann) reagieren.

 

         Die Evolution kam darauf, das Prinzip der Schwelle mehrfach anzuwenden und Technik und Gesellschaft haben es in allen Steuersystemen nachvollzogen. Beide stauen einfach vor der ersten Schwelle soviel, sagen wir Sekundärenergie, daß diese zwar nicht ausreicht, den Bereich zu retten, aber sie reicht aus, die (Primär-) Schwelle zu senken. Jetzt kann natürlich diese zweite Schwelle, hinter der die Sekundärenergie gestaut ist, viel niedriger, sprich empfindlicher sein, als die primäre. Ich muß nicht vom Regen durchnäßt werden, um den Unterstand aufzusuchen, sondern ich kann dies trockenen Fußes beim Anblick des Wetterleuchtens tun, weil ich gelernt habe, was das Wetterleuchten bedeutet. (Vorgegriffen: weil in meinem Verstand die Kategorie der Kausalität zwischen Wetterleuchten und Unwetter implementiert ist.)

 

         Bei vielstufiger dynamischer Hierarchie genügt dann die winzige strukturierte Lichtenergie, die das Bild des Freßfeindes auf die Netzhaut des Leittieres wirft, um über dessen Warnruf bzw. Sprung die in einer ganzen Herde gestaute Bewegungsenergie zur Stampede zu lösen. Analog löst ein Mikroprozessor, der über mehrere Stufen die Schleusen zu Schwach-, Steuer- und Starkströmen senkt, schließlich durch einen Fingerdruck den Hub tonnenschwerer Lasten aus.

 

 

         3.4.1  Voraussicht

 

Die Sekundärschwelle muß also nicht durch die zerstörerischen Einflüsse selbst, sondern kann bereits durch ihre schwächeren Vorzeichen bewegt werden. Damit erscheint so etwas wie Voraussicht schon in präbiotischen Bereichen. Der Bereich bildet wiederkehrende Folgen von Ereignissen in sich ab. Er lernt auf die Ursache so zu reagieren, daß ihm die Wirkung nicht zum Schaden gereicht. Er hat - ohne dafür Geist, Gedanken oder Gedächtnis zu brauchen - ein Schema, eine Konstruktion in sich, womit er die richtigen, d.h. die ihn selbst erhaltenden Antworten auf die Einwirkungen der Außenwelt gibt.

 

Beispiel: Man denke sich Eiweißmoleküle, (auch Koagulate oder Koazervate genannt) im Gewässer der Vorzeit, durch kein Ozon vor der zersetzenden UV-Strahlung geschützt, aber doch zeitweise auf Wärme und gelöste Gase der Oberfläche angewiesen. Ein deutlicher Selektionsvorteil wäre dann mit der "Fähigkeit" verbunden, auf das Licht der Morgendämmerung durch Gas- oder Volumenverlust in der Weise reagieren zu können, daß bei der Einwirkung des vollen Spektrums bereits tiefere (UV-sichere) Wasserschichten erreicht sind. Die Morgendämmerung wird zu Information, ohne daß ein Geist gedacht werden muß, der sie verarbeitet. Sie ist das Vorzeichen der eigentlichen Gefährdung durch das UV-Licht, auf das der Körper reagieren muß, um der Gefahr zu entgehen. Verarbeitung ist hier die dauermehrende Reaktion, das Abtauchen. Verständnis ist nicht nötig, es sei denn wir nennen jetzt die baulichen Vorkehrungen im Körper / Bereich (das sind diejenigen, die ihm erlauben auf Grund der äußeren Einwirkung schützende, erhaltende, wehrende Energie zu lösen) “Verständnis”. M.a.W. wir nennen den Mechanismus Verständnis, der den Warnruf in Flucht, die Morgendämmerung ins Sinken, das Signal in Zugkräfte übersetzt.

 

Der Filter "Lichtempfindlichkeit" bildet gemeinsam mit der zugehörigen Reaktion die Kausalität der Welt ab. Der überdauernde Bereich ist so konstruiert, daß er die übliche Folge der Ereignisse “lernen” und zu seinem Erhalt nutzen kann. Der "erkenntnisgewinnende Prozeß" darf wieder einmal vorverlegt werden: er beginnt mit dem Erscheinen bereichserhaltender Reaktionen.

 

 

3.4.2 Zufall, Freiheit und Willkür

 

Wir sehen, die mehrstufige Hierarchie kann so weit getrieben werden, daß die auslösenden Energiemengen schließlich gegen Null gehen. Geringste Fluktuationen, irgendein prinzipiell nicht vorhersagbarer Teilchenzerfall, Träume, Stimmungen, Launen, unmerkliche Stoffwechselstörungen, die Fliege an der Wand, der Wetter-Schmetterling, Willkür oder freier Wille sind imstande, ungeheure Energiemengen zu lösen. Es eröffnen sich Möglichkeiten zu konkreter Behandlung des Freiheitsbegriffes. Zumindest verschwindet hier die mechanische oder mechanistische Kausalität hinter der Unwägbarkeit der Auslöser.

 

 

3.5 Die Filter


Würde eine Herde nicht nur auf das Feindbild, sondern auch auf eine Butterblume, einen Regenguß oder den Sonnenaufgang mit einer Stampede reagieren, so wären weder diese Herde noch ihre Individuen von großer Dauer. Schon primitive Bereiche (wie zB die ditfurthsche Zecke, die nur auf die Kombination der beiden Reizarten Buttersäure und Säugerwärme reagiert) brauchen vor der Schwelle einen Filter, damit sie nicht auf jede Einwirkung hin ihre "mühsam" gestaute Energie lösen. Das begrenzte Repertoire der Reaktionen darf nur von dem Reiz abgerufen werden, vor dem es schützt. Jeder andere Reiz, der die Reaktion auslöste, ließe beispielsweise die Zecke ins Leere fallen und beendete ihren Beitrag zur Arterhaltung.

 

Der Filter darf also nur Energie einer ganz bestimmten Struktur durchlassen an die Schwelle. Dieses "Durchlassen" ist physikalisch eher als eine Resonanz ) Footnote zwischen Filter und Reiz zu beschreiben, die ggf. über mehrere Hierarchiestufen dann die Schwellen senkt. Ohne weitere Implikationen und Diskussionen zu verfolgen, kann die Resonanz hier genommen werden als eine Übereinstimmung zwischen etwas von außen über die Sinne eintreffendem und etwas aus früheren Wahrnehmungen verbliebenem, dem Gelerntem, das uns beim Eintreffen des Reizes das Gefühl des Bekannten vermittelt.

 

 

Die durch Lernen erzielte Disposition des Gehirns, die es zu Wahrnehmungen befähigt, nennen wir Weltbild. Es entsteht mit den Vorstellungen, erhält als deren Verbinder die Kategorien und faßt die Vorstellungen schließlich in Begriffen zusammen.

 

 

Nebenbei: Sehen und Computer

 

Die Untersuchungen zur computeriesierten Nachvollzug des Sehens bzw. des optischen Erkennungsvorgangs zeigen anschaulich die immensen Schwierigkeiten bei dem Bemühen, die Welt ohne ein Weltbild zu nachzukonstruieren. Marr [*****] widmet etliche hundert Seiten der Diagnose von Oberflächenformen oder von Texturen oder der Ermittlung der Eigengeschwindigkeit aus veränderlichen Bildern. Er versucht damit aus optischen Eindrücken den Gegenstand nach Lage und Form im Computer zu rekonstruieren. Endlich, da er auch die Erkennung von Lebewesen aus der Kombination von geometrischen Grundfiguren zu entwickeln versucht, muß er doch ein Vorwissen über die Fauna einführen. Dabei hätte ihm die Einführung des Vorwissens viel Arbeit bereits bei der Diagnose von Oberflächen erspart. Ich erkenne “Fell” eben, weil dessen Oberfläche in ihren verschiedenen Erscheinungsformen als bereits gesehen in mir gespeichert ist und folglich Resonanz findet und nicht, weil ich Form, Anzahl, Anordnung, Reflexionsweise usw von haarförmigen Gebilden errechnet habe.

 

 

Das Vorwissen

 

Der Computer, der keinen Wachstums- und Lernprozeß durchgemacht hat, muß z.B. zur Verwertung der Querdisparität aus zwei unterschiedlichen Bildern Raumtiefen und Formen errechnen und konstruieren. Das Lebewesen hat gelernt, die Bewegungs- und taktilen Erfahrungen seiner Ontogenese mit dem Differenzmaß der Bilder beider Augen zu verbinden und gewinnt aus der Resonanz des Wahrgenommenen mit dieser gespeicherten Erfahrung sein Wissen über die tatsächlichen Raumverhältnisse - ohne zu rechnen, ja ohne mit digitalen oder analogen Mengen umzugehen. Es braucht nur die mehr oder weniger enge Übereinstimmung neuronaler Strukturen (aus rechts und aus links) zu spüren. Das Maß der Querdisparität, verglichen mit den gemachten Erfahrungen gibt mir die Entfernung und nicht eine unbewußt ausgeführte Parallaxenberechnung.

 

 

 

 

Erst in der “agent technology” (zB K. Dautenhahn, “Cognition and agent technology” oder Stefan Kiener “Die Principal-Agent-Theorie aus informations-ökonomischer Sicht”, Physica-Verlag Heidelberg, Diss 1989, Seite 4: “...Beziehungen zwischen der anordnenden Partei “Principal” und der ausführenden Partei “Agent”...”) fließen in die Konstruktion von Steuerelementen auch Vergangenheitswerte und -vorgänge ein. Die klassische Kybernetik als ein Bild der mehrstufigen Hierarchie nahm ja Informationen über den Zustand des Systems auf, um ihn gewissermaßen in Echtzeit einem Wunsch- oder Sollzustand anzunähern. Der Wunschzustand oder dessen Parameter sind der Funktionsweise nach ein Weltbild-in-nuce oder der Filter, der vom Bedarf aktiviert, an die Welt gehalten wird. Er wird mit den von außen eintreffenden “Sinnes-“ Daten verglichen und löst bei Resonanz (zB “Drehzahl xy erreicht Grenzwert”) eine Aktion (“Energiezufuhr drosseln”) aus. Die agent technology speichert nicht nur den Sollzustand im agent, sondern ganze mögliche und/oder vergangene Panoramen, also (Vor-) Formen von möglichen alternativen Weltbildern, mit denen sie instand gesetzt wird, auf Veränderungen von System und Umwelt reagieren zu können. Der Agent verleugnet nicht seine Herkunft aus dem Umkreis der Wissensgesellschaft: er ist mit dem nötigen Funktionswissen ausgestattet, nicht jedoch, wie sein Name richtig wiedergibt, mit der Vollmacht zur (Ressourcen-) Lenkung.

 

Schließlich kann die Auslöse-Energie so schwach werden wie das vom Papier reflektierte Licht, und sie kann gleichzeitig so hoch strukturiert sein wie ein Schriftbild oder ein Portrait. Haben wir dann die zugehörigen Filter, also die Kenntnis des Aussehens der Person oder die Kenntnis von Alphabet und Sprache in uns (bzw. durch Lernen vorab in uns aufgenommen), so werden wir durch die vom Blatt kommende (als Schriftbild strukturierte Licht-) Energie informiert.

 

 

 

 

 


 

3.5.1         Das Weltbild

 

Das Weltbild ist gegenwärtig wieder ein vielgebrauchter Begriff. Als eine leicht diffuse Erscheinung aus dem Reich des Geistes hat es die nötige Unschärfe, um aus dem Ähnlichen das Übereinstimmende zu extrahieren. Aber es finden sich in ihm auch sehr klare, und trotzdem vielfach übergangene Strukturen, die maßgebend seine Funktionsweise bestimmen.

 

Von den Versuchungen, die die Rede vom “Gedankenstrom” beinhaltet, muß gewarnt werden, wenn man die sozial wirkende Macht des Weltbildes verstehen will. Der Gedankenstrom, verstanden als der willentliche oder unwillkürliche Vorgang des Denkens ist nicht das freie Fließen beliebiger Gegenstände/Vorstellungen durch den Gedankenraum oder durch die Vorstellungswelt, sondern das Durchschreiten des vorhandenen festen Weltbildes auf den durch es gebahnten Wegen. Die Wege sind die Kategorien, die nach Art der Rohre des brüsseler Atomiums die Kugeln der Vorstellungen und Begriffe miteinander verbinden. Über die Kategorie der Kausalität gelange ich von der Wahrnehmung des Blitzes zur Erwartung des Donners. Die Vorstellungen und Begriffe werden auf diesen Wegen erreicht / aktiviert / ins Bewußtsein gerufen und wieder verlassen. Aktiv und deutlich ist immer nur eine Vorstellung - die anderen nahen verbleiben im Halbschatten, die fernen sind außerhalb des Bewußtseins.

 

Wir erhalten den anschaulichen Nachweis der skizzierten Denkbewegung, wenn wir das Galtonsche Experiment) Footnote vor dem Verlust der Kontrolle abbrechen und nur die Assoziationen werten, die im Zustand der Wachheit und auf dem Wege der Logik, des Konsenses bzw. geltender Moralvorstellungen gewonnen wurden. Dann sagen wir nicht von Emotionen, Träumen, Fieber oder Poesie gelenkt : “Wolke - Klang”, “Kuh - Dreieck”, “Mutter - Eros” oder “Ehre - Mond”, sondern “Blitz - Donner”, “tun - lassen”, “Blatt - Baum”, “Mutter - Kind”.

 

D.h. wir benutzen dauerhafte, erfahrungsbegründete, gelernte und jederzeit wieder aktivierbare Verbindungen zwischen den Vorstellungen, nämlich die Kategorien, um von einer zur anderen zu schreiten. Über die Kategorie der Zusammengehörigkeit gelangen wir von der Mutter zum Vater; über die Kategorie der Kausalität gelangen wir vom Blitz zum Donner, über die der Genese gelangen wir von der Mutter zum Kind, über die des Zweckes von der Liebe zur Vermehrung, vom Fenster zum Licht usw. Galton hatte bekanntlich das Experiment so gestaltet, daß durch seine zeitliche Ausdehnung Ermüdung und schließlich ein Verlust der Kontrolle eintrat, der jetzt die Verbindung zwischen den Begriffen nicht mehr durch Logik, Vernunft und Gewohnheit, sondern durch Wünsche, Ähnlichkeiten und verborgene Präferenzen herstellte. Beim normalen, logischen, gewohnten Gang durch das Weltbild lernen wir nichts über verborgene psychische Besonderheiten, aber wir lernen etwas über die mit der Ordnung der Welt korrespondierenden Verbindungen zwischen unseren Vorstellungen und Begriffen.

 

 

3.5.2 Kanalisierung des Denkens durch das Weltbild

 

Die besprochenen Filter, also die gelernten Vorstellungen und Begriffe werden beim Denken nacheinander entlang der sie verbindenden Kategorien aktiviert, d.h. ins Bewußtsein gerufen. Wenn ich sage, jedes Kind hat eine Mutter, dann schreite ich entlang der Kausalverkoppelung “Seinsursache” (“A (Mutter) ist Seinsursache von B (...des Kindes)”) vom Begriff des Kindes zu dem der Mutter. Verlasse ich die kategorialen Verkoppelungen zugunsten von Wünschen oder zugunsten der einfachen Ähnlichkeit von Gegenständen oder gar des Wortklanges, so denke ich assoziativ. Danach könnte ich zwei Menschen zu Zwillingen erklären, ohne auf ihre Abstammung, den logischen Grund von Ähnlichkeit, Rücksicht zu nehmen. Ich könnte die Unendlichkeit des Raumes in Abrede stellen, weil ich sie nicht zu fassen vermag, oder ich könnte sie postulieren, weil sie vorstellbar ist. Erfahrung gibt darüber nichts her, so daß das freie Spiel der Wünsche einsetzt.

 

Logik ist also nur der Weg, auf dem ich entlang der vielfach bewährten Kategorien das Weltbild durchschreite. In wessen Weltbild eine Verbindung zwischen “Seele” und “Unsterblichkeit” besteht, in dem ist das Postulat der Unsterblichkeit eben logisch. Wo diese Verbindung nicht besteht, gibt es keinen Weg zwischen den beiden und das Postulat ist Unsinn. Ist die Verbindung unsicher, so versuche ich einen Umweg über andere Verbindungen (z.B. über den Begriff “Gott” oder über „Jenseitserfahrungen“, jedenfalls andere anerkannte Passungen) und nenne diese Beweis. Logik ist also von der Gestalt der Begriffe abhängig; sie beschreibt den Weg durch das Weltbild und stellt von sich aus keine Stimmigkeit her. Damit sind Folgerungen durch die Form grundlegender Begriffe programmiert. Besonders solche die Wunsch und Welt versöhnen, wie „Gotteslohn“, „Endsieg“ oder „Weltrevolution“ sind, rechtzeitig und in gleicher Weise implementiert, die eigentlichen Lenkwerkzeuge von Sozietäten.

 


 

 

 

          


 

 

3.5.3          Bildung der Kategorien und Begriffe

 

Die Kategorien erweisen sich damit als ein Produkt unbewußten Lernens, das allerdings erst nach der Bildung der Vorstellungen möglich ist. Nur wenn ich weiß, was Donner und was Blitz ist, kann die Realität durch wiederholte Einwirkung auf meine Sinne zwischen ihnen die Kategorie der Folge oder gar der Kausalität etablieren. Und ganz so, wie der reale Blitz Passung mit dem Gelernten findet, da er bei Gewitter erwartet wird, so tritt mit dem Moment der Passung entlang der etablierten Kausalkategorie die Erwartung des Donners auf. Philosophisch wurde die Herkunft der Kategorien so lange im Dunkel gelassen, weil ihre Entstehung bereits beim Embryo durch das Wechselspiel zwischen motorischem und sensiblem System (zB mit dem Strampeln, das eine Kausalverbindung zwischen Tun und Fühlen etabliert) beginnt. Ihr Aufbau erfolgt so langsam und allmählich, daß sie im Moment ihrer Bewußtwerdung (sogar für Immanuel Kant) dastehen wie ein Geschenk des Himmels - jedenfalls nicht gelernt, sondern als Voraussetzung des Lernens.

 

Das Gleiche gilt für die Begriffe, die im Gegensatz zu den Kategorien nicht einzelne Vorstellungen miteinander verbinden, sondern ganze Gruppen von ihnen zusammenfassen. Im Bild des Atomiums tun sie dies über die Kategorie der Zugehörigkeit. Die Entstehung der Begriffe kann bereits auf der Ebene der neuronalen Netzwerke erklärt werden (s. Kapitel “Generalisierung” in Spitzer: “Geist im Netz”). Sie begann in der Evolution an Hand interessierender Merkmale. So wurden Gegenstände, die das Merkmal der Eßbarkeit trugen, unter dem Begriff “Nahrung” zusammengefaßt bzw. sie wurden der gleichen Reaktion, nämlich dem Verzehr unterworfen.

 

 

*

 








Passungen sind Stellen, an denen ein Begriff
Beobachtungen bestätigt.
Je mehr Beobachtungen er bestätigt, desto
leistungsfähiger ist der Begriff
.

 

 

 

 

 

 

Wo offene Passungen gesättigt werden sollen, d.h. wo Fragen bestehen, müssen Begriffe eingesetzt werden. Das Merkmal Kugeleigenschaft beantwortet die sechs obigen Fragen und faßt zugleich die fraglichen Ereignisse als durch den Begriff “Globus” bedingt zusammen. Ausgangspunkt ist hier nicht das Interesse am Gegenstand, sondern an einer Antwort oder einem Zusammenhang. Damit faßt der gefundene Begriff die Dinge / Fragen nicht unter sich, sondern setzt ihre Gemeinsamkeit, ihre Ursache, ihre Erklärung.

 

Nur die Erde als Kugel vorgestellt kann die Weltumsegelung erklären. Nur die Kugelform der Erde kann den immer kreisförmigen Schatten auf dem Mond erklären. Nur die Kugeleigenschaft kann die Fehler der Landesvermessungsnetze erklären und korrigieren. D.h. daß nur die Vorstellung eines Globus Passung mit den Beobachtungen findet. Die Scheibe, obwohl auf den ersten Blick plausibel, hat bei genauerer und dauerhafter Beobachtung mit der Welt keine Passung. Die Implementierung der Vorstellung “Globus” im Weltbild ist ein Akt der Intuition, da diese Vorstellung nicht ableitbar ist und da man zuvor nicht einmal weiß, welche Fragen sie beantworten wird. Im Nachhinein findet man dann die Weltumsegelung, den immer kreisförmigen Schatten auf dem Mond, die Fehler in den Vermessungsnetzen usw. erklärt, d.h. mit Passung versehen.

 

 

Ökonomie der Begriffsbildung

 

Schon früh wurde die Notwendigkeit der Begriffe mit dem begrenzten Fassungsvermögen des Geistes begründet. In dem Zusammenhang wurde auch die Ökonomie der Kommunikation aufgeführt, die durch Begriffe die endlose Aufzählung von Vorstellungen vermeidet. Der eben beschriebene Aufbau des Weltbildes enthüllt die Begriffe zusätzlich als seine (des Weltbildes) entscheidenden Stablisatoren. Statisch, d.h. im Bild des Atomiums gesehen, vermehrt die Zusammenfassung durch die Begriffe die Zahl der kategorialen Kopplungen um jene der begrifflichen Zugehörigkeit. Wenn ich weiterhin darauf achte, Begriffe mit möglichst vielen Passungen einzusetzen, dann halte ich ihre Anzahl niedrig und verkürze die Denk- und Suchwege. So verschwanden mit der Einsetzung von “Massenanziehung” in der Astronomie beispielsweise die Kristallkugeln und die ganzen Besonderheiten der extralunaren Sphäre. Eine in jeder Hinsicht wohltuende Vereinfachung war erzielt worden.

 

Wenn die Komplexität des “besseren” Begriffs, also dessen mit einer grösseren Zahl von Passungen, den Aufwand an Handhabung überschreitet, den das Vorhalten eines weiteren aber einfacheren Begriffs verursacht, dann wird in der Praxis jedoch eher der einfache gebraucht. Kurz: ich berücksichtige bei der Gartenarbeit nicht die Kugelgestalt der Erde, sondern begnüge mich mit der Scheibe. Wenn es mir jedoch in ein und demselben Wissensgebiet gelingt, verschiedene und häufige Erscheinungen auf dieselbe Ursache zurückzuführen, dann habe ich das Weltbild stabilisiert. Die Verbindungen treffen sich in einem Knoten, während sie vorher in zweien oder vielen endeten, die dazu noch untereinander unverbunden waren. Beim Denken habe ich durch zu viele Begriffe vermehrte Zuordnungsprobleme und wegen fehlender Zusammenhänge häufigere Stops, die dann wieder Umwege erfordern.

 

 

3.5.4 Stufen der Erkenntnis

 

Das Weltbild ist die Summe unserer Vorurteile. Es ist das Werkzeug der Erkenntnis und der Grund aller Irrtümer. An Hand seiner lassen sich mehrere Stufen der Erkenntnis unterscheiden, zum Beispiel:

 

erstens die einfache Resonanz: “das kenne ich, das ist ein Apfel, ein Bach, Onkel Fritz usw.”; ich habe die Maske “Apfel” einst gelernt (als elektrochemischen Zustand im neuronalen Netz des Gehirns gespeichert) und spüre nun die Resonanz, die sie mit dem eingehenden Muster “gesehener Apfel” findet –> “Wahrnehmung”

 

zweitens das “Fassen unter einen Begriff”: “das ist Fiffi; Fiffi gehört zur Rasse der Dackel, die Dackel gehören zur Art der Hunde.”; der wahrgenommene Hund hat Merkmale, die Passung mit den Merkmalen finden, die im Begriff Hund als allen Hunden zukommend vereint sind. Zu der Resonanz zwischen Maske und Muster kommen die weiteren Resonanzen zwischen aktivierter Maske und Begriff sowie evtl zwischen Begriff und Oberbegriff.

 

drittens die Einpassung in kategoriale Zusammenhänge: “der Stoff hat die und die Eigenschaften; es handelt sich um ein chemisches Element, das an die Stelle X im periodischen System gehört. Es könnte folgende Verbindungen eingehen, es könnte die und die biologischen Wirkungen entfalten und als Legierungsbestandteil da und dort von Nutzen sein...”;

 

viertens die Einpassung einer alten bewährten Vorstellung als ein neuer Begriff, der verbesserte oder vermehrte Passungen herstellt: “zwischen jeder Art von Materie wirkt eine universelle Anziehungskraft, die sowohl die Schwere irdischer Körper als auch den Lauf der Gestirne erklärt.” Oder „... die Tatsache, daß Dinge hinter dem Horizont verschwinden oder daß wer lange genug nach Westen segelt, aus dem Osten zurückkehren kann, läßt sich nur erklären, wenn man die bekannte Vorstellung der Kugel zu ungeheurer Größe aufbläht und als Globus im Weltbild implementiert.“

 

Es scheint, daß die innerstädtische Alltagserfahrung dieser astronomi-schen Bilder kaum bedarf, aber schon wenn ein leuchtender Satellit am Abendhimmel seine Bahn zieht oder ein Gast mit dem “time lag” zu kämpfen hat, sind sie zum Zwecke der Erklärung und Vorhersage bereits unterhalb astronomischer Überlegungen unentbehrlich. Im “Globus” war zwar die Anschaulichkeit der “Kugel” verlorengegangen, aber durch die gute Passung mit anderen Erscheinungen kompensiert worden. Ja, die Fotos aus dem Weltall haben dann sogar die Anschaulichkeit wiederhergestellt.

 

 


 

Unanschauliche Begriffe

 

Die moderne Physik dagegen ist so schwierig, weil z.B. für den Welle-Teilchen-Dualismus oder die Raumkrümmung keine bewährten Vorstellungen (wie die vorigen aus dem Alltag bekannten „Kugel“ oder „Anziehungskraft“) zur Verfügung stehen. Es gibt kein durch Alltagserfahrungen vertrautes Bild für das “Wellenteilchen”; es hat nichtsdestoweniger einen Erklärungs- und Erkenntniswert, weil es eine Vielzahl von Beobachtungen durch Passung miteinander verbindet, sie unter einen gemeinsamen Begriff faßt und dadurch letzten Endes das Weltbild vor überflüssigen Konstrukten bewahrt, es vereinfacht und stabilisiert.

 

Mit “wahr” oder “falsch” ist ein derart gefundener Begriff nicht mehr zu beurteilen. Es geht eher um seine Qualität, die sich in der Zahl und Güte seiner Passungen ausdrückt. Es geht um “besser” und “schlechter”, um Reichweite, Bestätigung und Anwendbarkeit. Der “Äther” hat sicher auch einiges erklärt, aber der einsteinsche Raum erklärte mehr und war daher trotz seiner zunächst erfahrungsfernen Zumutungen besser. Ob es ihn gibt, muß weder entschieden noch gefragt werden. Er tut seine Pflicht als Mittelpunkt eines ganzen Universums von Messungen, die ihn bestätigen. Mit Recht bezweifelt Mach das Vorhandensein der Atome. Jedenfalls so, wie wir sie uns vorstellen, sind sie bestimmt nicht, schon weil sie kein sinnliches Korrelat haben. Die Atome sind ein Konstrukt, das im Lauf der Zeit durch neue Eigenschaften wie Ladungen, Schalenstruktur, mögliche Bindungsarten, Teilbarkeit usw. den ständig sich vermehrenden Beobachtungsdaten angepaßt wurde. Aber nichts davon kann angefaßt werden.

 

Der universellste und vielseitigste Verbinder-Begriff ist übrigens im Laufe der Zeit jeglicher Vorstellbarkeit entzogen worden; er heißt “Gott”. Er hat Passungen zu allem und jedem, er überbrückt all unser Unwissen und öffnet die Welt zum Reich der Wünsche. Eine konkrete persönliche Gestalt kann er nur im einfachen Weltbild annehmen. Dort kann er als himmlischer Hordenchef dem Irdischen seine Wünsche mitteilen und sie von ihm erfüllen lassen. Mit wachsender Komplexität des Weltbildes zieht Gott sich aber in die Abstraktion zurück. Er wird erst zum unsichtbaren Lenker, dann zum anonymen Gesetz, danach zur ersten/letzten Ursache, zum bloßen Einschaltknopf der Weltmaschine und schließlich zum Namen für ein Nichts. Der Vorteil ist, daß das Nichts zu allem Passung hat, der Nachteil, daß es ohne Einfluß bleibt.

 

Auch im Traum herrscht keine Willkür in Bezug auf die Gegenstände. Der Traum bewegt sich im Rahmen des Weltbildes; es ist in ihm immer noch wirksam, nur werden die kategorialen Verbindungen gelöst. Ursache und Wirkung beispielsweise verlieren ihre Bedeutung oder verkehren sich. Der Traum als ein Treiben von Bildern könnte ein Gedankenstrom genannt werden, ist aber in Wirklichkeit eher eine regellose Aktivierung und Deaktivierung vorhandener Elemente - der gelernten Vorstellungen bzw. ihrer Teile. “Regellos” heißt hier, nicht entlang der Kategorien, sondern nach verborgenen Wünschen, Ähnlichkeiten, Befürchtungen und Bedürfnissen, denen Kultur und Realität keine Bildung kategorialer Verbindungen gestatten.

 

Daß sowohl die logischen als auch die assoziativen Passungen im Weltbild weitgehend kulturell bedingt sind, ist weitläufig besprochen und beschrieben worden. Die große Befriedigung, die aus der Stimmigkeit, d.h. aus der Zahl der Passungen der Elemente des Weltbildes untereinander und mit denen der (aktuell durch die Sinne vermittelten) Realität resultiert, ist eine der stärksten gesellschaftlichen Triebkräfte. Ursache sind die Emotionen der Individuen, die aus Stimmigkeit und Unstimmigkeit entspringen. Der Fundamentalist möchte die Welt dem Weltbild unterordnen, der Wissenschaftler das Weltbild der Welt anpassen. Die Stabilisierung des Weltbildes, beispielsweise in Form des Glaubenskrieges oder der Forschungsaufwendungen hat deshalb dieselbe Bedeutung wie das Stillen des Hungers und des Sexus. Einsiedler, Fundamentalisten, Fälscher, verführte Massen und Märtyrer sind die lebenden Beweise dafür.

 

 

3.5.5          Stabilität und Stabilisierung des Weltbildes

 

Der Zustand dieser Art von Befriedigung kann also erreicht werden entweder indem man die Realität dem Weltbild oder dieses der Realität anpaßt. Zahl und Güte der Passungen, gefunden durch Forschung, Kontemplation (Anpassung des Weltbildes) oder Gewalt (Anpassung der Realität), sind dann ein Maß für Zufriedenheit. Psychologisch von größter Bedeutung ist die Spiegelung des Weltbildes bzw. die Stabilisierung in den Köpfen der anderen. Nicht ich will glauben, sondern die anderen sollen glauben, was ich begreife oder was ich brauche. Die Mission d.h. die Implementierung und Stabilisierung in den Köpfen der anderen öffnet sie der Kommunikation und unterwirft sie der Lenkbarkeit. In der gleichen Ebene oder von gleich zu gleich bringt sie Bestätigung, der höheren Ebene bringt sie die bedingungslose Umsetzung des Gewünschten in die Realität.

 

Weil nun das Denken nicht frei im Raum, sondern auf den Bahnen des gelernten Weltbildes erfolgt, ist es sowohl im Verlauf als auch in den Ergebnissen strikt vom Aufbau des Weltbildes abhängig. Es kann nur wenig gedacht werden, was nicht im Weltbild enthalten ist. Wird es doch gedacht, (oder vorsichtiger: wird Vorhandenes in ungewohnte Verknüpfungen gestellt oder neu kombiniert) indem beispielsweise die Gestirne durch die bisher (zwischen ihnen) nicht vorhandene Kategorie der Relation “Anziehungskraft” verbunden werden, so handelte es sich bekanntlich um einen Wissensfortschritt durch eine Revolution. Er bestand darin, daß zwischen zwei vorhandenen Anknüpfungspunkten (“Laufbahn” und “Gestirn” - aus der Welt gewonnen und als Vorstellung implementiert) eine neue Kategorie gespannt, eine Abhängigkeit (“Entfernung - Kraft”) postuliert oder in anderem Zusammenhang eine Vorstellung (“Kugel”) als Begriff (“Globus”) eingesetzt wurde.

 

Allem voran geht natürlich der Aufbau von Vorstellungen (“Gesicht der Mutter”,“Kraft”, “Liebe”, “Kreide”, “Feind” usw.), der erst Resonanzen und Verknüpfungen ermöglicht. Resonanzen initiieren Reaktionen, Verknüpfungen / wiederholte Zusammenhänge implementieren Kategorien. Gemeinsame Verknüpfungen fassen zusammen zu Begriffen. Sind es zunächst Merkmale des Interesses wie “Brennbarkeit” oder “Jagdbarkeit”, die die Zusammenfassung zum Begriff der Feuerung oder des Wildes ermöglichen, werden die Merkmale des Interesses durch solche von Dauer und Verbreitung (“Wirbelsäule”, “Abstammung”, “Atom”, “Über-Ich”) ersetzt. Dieser Vorgang, “Fortschritt der Wissenschaft” genannt, hat zur Folge eine Stabilisierung des Weltbildes. Die Zahl der Verbindungen wächst und mit ihr die “Erklärbarkeit”. Die Zahl der Begriffe sollte eigentlich (allein durch die Aufdeckung von Zusammenhängen) abnehmen, kann aber durch die wachsende Zahl der Fakten wieder vermehrt werden.

 

Ob nun “große Vereinigung” oder Monotheismus - die hierarchische Ordnung des Begriffsgebäudes verlangt eine Spitze um “die Welt aus einem Grunde zu erklären” - ein psychologisches Grundbedürfnis des Denkapparates, das von der Ökonomie gefordert wird.

 

Der Prozeß findet keinen Abschluß, weil zugleich eine Wissensvermehrung, ein Zuwachs an Beobachtungen stattfindet, die wiederum Einordnung und Zusammenfassung verlangen. Stellt sich dabei heraus, daß ein Begriff mit besonders vielen Passungen und/oder mit besonders vielen Unterbegriffen, also ein Grundbegriff, geändert werden muß, so steht ein Paradigmenwechsel bevor.

 

 

3.5.6          Weltbild und Hierarchie, Religion

 

Soziologisch bedeutsamer ist aber zB die Passung zwischen den Vorstellungen von “Leiden” und “Lohn”, die alle Duldungen belohnt oder die Passung zwischen “Fremd” und “Böse”, die den Haß und die Gewalt rechtfertigt. Will sagen, die im Weltbild vorgegebenen Passungen lenken das Denken auf ganz bestimmte Wege. Oder andersherum: es ist außerordentlich schwer, gegen das Weltbild anzudenken. Es ist schwer, die Straßen nicht zu nutzen, auf denen ich gehen gelernt habe oder auf denen alle gehen, weil sie so breit gebaut sind. Die Gemeinsamkeiten im Weltbild ermöglichen erst die Hierarchie. Sprache / Kennen, Übung / Können und Anerkennung / Wollen sind die Voraussetzungen für die Wandlung von Information in gemeinsame Aktion.

 

 

3.5.6.1       Religion

 

Beim Durchschreiten des Weltbildes landet man immer wieder im Leeren, beispielsweise wenn man an Hand der Kategorien der Kausalität eine erste Ursache oder einen letzten Zweck sucht. Die letzten Fragen finden keine Antwort, das Weltbild hat kein Widerlager, es sei denn im Glauben. Aber in welchem Glauben? Nur Allmacht und Ewigkeit bilden ein ausreichendes Widerlager; alles andere muß ja selbst wieder Halt suchen. Ihn gibt nur die Religion.

 

Ist damit das Handeln bestimmt, oder wenigstens menschenwürdig kanalisiert? Nein, die Religion bewirkt durch ihre Grundsätze und Vorschriften von sich aus gar nichts, weder Böses noch Gutes, weder Gesittung noch Aggression. Man kann im Islam eine Friedensbotschaft erkennen und man kann als christliche Institution lebendige Menschen verbrennen. Die Religion hat nur die Eigenschaft, aufsteigende Emotionen zu kanalisieren und auszurichten. Maß und Tempo der Verdichtung bestimmen die Ergebnisse. Aus Bedrängnis, aus Haß, aus Hunger oder aus Wohlgefühl erwachsen Kriege, Caritas, Tempel oder Pogrome - nicht weil die Religion es befiehlt, sondern weil sie die Zusammenhänge, die Wege vorgibt, auf denen Emotionen zu gemeinsamen Gedanken und Gedanken zu Taten werden. Auch hier sorgen Weltbild, Wille, Gemeinsamkeit und Umfeld dafür, dem Impetus eine Richtung zu geben, die nichts mit den Absichten der Einzelnen oder den Vorschriften des Glaubens zu tun hat.

 

Es ist also nicht der Inhalt der Religion maßgebend für ihre gesellschaftliche Wirkung, sondern die Stabilität und die Gangbarkeit der Kopplungen und Vorstellungen im Weltbild. Maßgebend sind nicht die Gebote, sondern die Stringenz, mit der Folgerungen gezogen werden können. Maß- und richtunggebend sind die Wege von der Information zur Aktion. Allahs (Gottes, Beelzebubs, Manitous...) Wille ist durchzusetzen, nicht zu erforschen oder gar zu bezweifeln. Diese Stringenz, das Fehlen von Wenn und Aber, die Abwesenheit überflüssigen Wissens im Verein mit der Schubkraft der Emotionen gibt der Hierarchie freie Hand für die Lenkung gemeinsamen und gerichteten Ausbruchs.

 

Ebenso wichtig wie die Stringenz der Kopplungen ist ihre Anzahl. Die Religion sollte zu Lenkungszwecken zwischen den einzelnen Vorstellungen, Grundsätzen, Forderungen so wenige Kopplungen haben wie möglich. Keine Witze, keine Rätsel, keine Konjunktive, kein Wenn und Aber... das ölt nur den Verstand, bringt ab vom graden Wege. Die Stabilität des Weltbildes steht im umgekehrten Verhältnis zu seiner Größe. Nur ja, ja, nein, nein, Du sollst, Du sollst nicht und Schluß. Wenige Begriffe, klare Vorschriften fürs Handeln, hier Gut und da Böse machen die Eignung für die Steuerung aus. Eine eindeutige Verbindung ohne Rücksichten und Alternativen zwischen Situation und Verhalten muß ganz klar ausgesprochen sein, sozusagen das Rezept fürs Leben muß vorliegen - dann kann der Führer die Masse bewegen. Wohin, das bleibt ihm überlassen. Religion ist dann der Transmissionsriemen der Interessenten ) Footnote , wiederum unabhängig von ihren (der Religion) Anforderungen.

 

Zu gemeinsamer Tat und Befreiung ist also ein stabiles, konsolidiertes und einfaches Weltbild mit möglichst wenigen Varianten und Verbindungen geeignet. Prototyp dessen wäre zB das Ergebnis einer Erziehung zum strikten Gehorsam. Es gäbe dann nur eine Kopplung zwischen Gedanken und Tat, zwischen Information und Aktion: den Befehl. Der allerdings, wie mehrfach erwähnt, ohne das geübte Können und Verstehen ins Leere laufen würde. Was bedeutet, daß auch diese beiden Fähigkeiten strikt beherrscht, aber ohne überflüssige Alternativen ausgeübt werden müssen. Eine Eigenart der Psyche, nämlich die Möglichkeit der vollständigen Abgrenzung der Welt von der Wunschwelt kommt dem entgegen. Erfahrungsgemäß kann ein und dieselbe Person sich in den letzten gott- und trostlosen Spekulationen der Kosmologie ergehen und gleichzeitig die skurrilsten Rituale einer Religion ausüben und anerkennen.

 

 

Empirisch ist lange offenkundig, wie unwiderstehlich der wachsende Bevölkerungsdruck (wie immer: bezogen auf die Ressourcen) die Entwicklung zu solchen Ausbrüchen treibt. Hier grummelt es sogar schon in der Wissenschaft, s. Homer-Dixon, “Mangel und Gewalt...”, Ohlsson etc., wobei aber wiederum der Organisationsgrad ausgelassen wird. Gut zu sehen beim nachlassenden Ressourcenstrom im Zuge fallenden Organisationsgrades in der Weimarer Republik, im Sahel, in Afghanistan....

Den Ausbrüchen geht voran eine Stabilisierung des Weltbildes durch die geschilderte Vereinfachung, das Wegbrechen von Verzierungen, von Kultur und Gesittung. Hand in Hand verläuft damit die Gleichrichtung der Individuen, der die Hierarchie nur noch übergestülpt werden muß. Der Rest ist die Sache eins Befehls. Und dabei ist eines schon gewiß: daß in den Lagern Palästinas, in Afrika, Pakistan und in den Mondlandschaften Afghanistans spätestens in 20 Jahren bei schwindenden Ressourcen die doppelte Menschenanzahl ver- und entsorgt werden muß. Auch wenn jeder einen Friedensengel zur Seiten hätte - der letztere wird unweigerlich mitsamt seiner Palme im Blut ertränkt.

 

 

Verdichtung

 

Der Zusammenhang zwischen absoluter Verdichtung und der Produktion von Ungleichheit ist nicht linear. Es gibt Verzögerungen und Beschleunigungen. Über längere Zeiträume beobachtet, hat er sich sogar exponentiell entwickelt. Durch das Wirken von Konzentration und Akkumulation haben wir ein gewaltiges Wachstum der Spitze unter gleichzeitiger Verbreiterung der Basis. Graphisch äußert sich dies in einer Einschnürung der Mitte. Ökonomisch gesprochen handelt es sich um die simultane Vermehrung von Reichtum und Armut. Ein Prozeß, der auch in reichsten Sozietäten Armut vermehrt. Noch deutlicher aber sehen wir, daß nahe dem größten Elend, ja dem Tode sich die Organisationskegel am steilsten aufrichten. Die absolute Machtausübung terroristischer Organisation findet im Feld der tiefsten Armut statt. Dort zeigt das Geld seine Macht, die abstrahierten Ressourcen entfalten ihre größte Steuerkraft. Sieht man darüber hinaus, wie die Fauna in der Wüste am wehrhaftesten wird und in der Kargheit die militärische Effektivität wächst, dann enthüllt sich jene Verformung der Hierarchie-Spindel / -Pyramide unter Druck als ein allgemeines Phänomen, als Gesetz.

 

Der technische Organisationsgrad ist so eng mit dem Ressourcenstrom korreliert, daß dessen Steigerung temporär die Verdichtung kompensieren kann. Verbessertes Bohrgerät, größere Schiffe, die Infrastruktur der Pipelines und anderen Transportwege hatten mit der ergiebigen und flexiblen Energiequelle Öl einen gewaltigen Schub der Bevölkerungszahlen zur Folge. Die Ölnutzung wäre jedoch besser unterblieben, weil Artensterben und Kontaminierung sich derart beschleunigen, daß eine Revitalisierung nach ihrem Ende in weite Ferne rückt.

 

Was die neuerdings aufscheinenden Gefahren des Bevölkerungsrückganges betrifft, kann nicht oft genug betont werden, daß es sich um Folgen vorangegangenen Leichtsinns bei der Vermehrung handelt. Die Menschheit hat mit dem Eintritt in die geschriebene Geschichte die Schwelle zum Wachstumszwang überschritten. Antike Reiche, Unternehmen, moderne Staaten und vor allem die Weltwirtschaft haben nur die Alternative zu wachsen oder zu fallen. Und je größer sie werden, desto katastrophaler sind die Folgen für den einzelnen. Der Wachstumszwang ist strukturell bedingt und hat nur wenig mit der Einstellung der Individuen zu tun. Nicht einmal die Führung ist davon ausgenommen. Vorläufig sei nur auf die Tatsache verwiesen, daß es keinen Unterschied in der Wohlfahrt macht, ob ein Staaten- oder Firmenlenker links und ökologisch oder rechts und globalistisch ist: sobald der Wortqualm verraucht ist, tun beide das gleiche.

 

 

3.5.9          Klonen

 

Da das Weltbild seine Stabilität mit den Synapseneinstellungen gewinnt, die durch wiederholten Gebrauch immer fester und dauerhafter werden, werden auch Klone mit der Zeit und bei unterschiedlichen Umweltbedingungen einander immer unähnlicher. Die Untersuchung eineiiger Zwillinge, die nach der Geburt in völlig verschiedenen Lebenskreisen aufwuchsen, hat zwar einerseits sensationelle und z.T. völlig skurrile punktuelle Übereinstimmungen in der Umkreisgestaltung gegeben, aber andererseits nicht widerlegt, daß einer ein demokratisches, der andere ein autoritär-faschistisches Weltbild verinnerlichen kann. Es ist daher eine Illusion, durch Klonen gleiche Menschen, gar einen gleichen Nachfolger herzustellen. Denn auch wenn dieser Nachfolger das Gleiche erlebt wie sein Erzeuger, erlebt er es in einem anderen Alter, an einer anderen (zumindest nicht an der durch den anderen eingenommenen) Stelle, d.h. einem anderen Erfahrungshorizont, sieht er es mit anderen Augen. Und er verarbeitet / lernt es in anderer Weise, so daß es sich mit der Verfestigung durch den Gebrauch als eine andere „Hardware“ in den Synapsen niederschlägt. Damit wird auch ein Lebewesen, das von Geburt an sozusagen baugleich erzeugt worden ist, auf Grund der von ihm gemachten Erfahrungen sich mit der Zeit vom (“gleichgeborenen”)Vorbild entfernen.

 

 

 

3.6 Information, Zusammenfassung

 

Ohne ein Weltbild oder wenigstens eine gelernte Vorstellung, mit der eine Sinnesreizung Resonanz finden könnte, wäre jede dieser Reizungen ein Rätsel. Ohne daß ich gelernt hätte, was das Plätschern, das Naß auf der Haut oder die schaukelnden Reflexe bedeuten, würde ich niemals erkennen: “...das ist Wasser ( ...welches mir in der und der Hinsicht von Nutzen ist)”. Und ohne die kategorialen Verbindungen mit anderen Vorstellungen, möglichen Handlungen und zusammenfassenden Begriffen wäre die Wahrnehmung „Wasser“ nicht als Wolkenbildner zu identifizieren, unter Trinkbarem zu fassen oder als Transportweg zu gebrauchen. So zeigt sich das Weltbild zugleich als Ergebnis und Voraussetzung der Erkenntnis. Einerseits brauche ich es, um durch Resonanz zu erkennen, andererseits erbaue ich es aus Erkenntnissen. Die Frage, wie etwas Ergebnis und Voraussetzung zugleich sein kann, stellen wir zurück hinter die Tatsache, das es da ist. (Zu beantworten wäre sie, wie man ahnt, nach dem Schema von Henne und Ei: beide nähern sich bei der Rückverfolgung der Evolution soweit einer gemeinsamen Form, daß die Prioritätsfrage verschwindet. Beim Erkenntnisproblem treffen sich Lernen und Erkennen im diffusen Anfangspunkt des Geerbten. D.h. das Vorwissen des Vorwissens wird uns durch die Arbeit unserer Vorfahren mitgegeben. (U.a. Popper 79)

 

Die soziale Bedeutung des Weltbildes ist nicht zu überschätzen. Es bestimmt, welche Signale gesandt, welche rezipiert und welche Handlungen von den Signalen ausgelöst werden. Vor allem bestimmt es durch seine Ähnlichkeit in verschiedenen Individuen, welche Signale von allen verstanden werden und gemeinsame gerichtete Bewegungen zur Folge haben können. Nun mag mancher einwenden, das komplexe Weltbild der Gebildeten ließe derart einfache Verhältnisse nicht zu. Sieht man sich aber Initiatoren und Vollstrecker der Bücherverbrennungen an, dann widerlegt schon die Praxis diesen Einwand. Es geht eben um Vielheiten und nicht um Individuen. Es heißt entweder “im Gleichschritt!” oder “Stillgestanden!”, entweder gemeinsame Veränderung oder chaotisches Verharren. “Jeder, wohin er will” ist unter Druck nicht förderlich; es hat keine sozialen Veränderungen zur Folge. Bezüglich des Zusammenhanges zwischen Kanalisierung und Weltbild darf daran erinnert werden, daß sowohl Thomas Mann als auch Sigmund Freud hypernationale Phasen hatten, verbunden mit Äußerungen, die nach heutiger pc unverzeihlich waren. Der Mensch unterliegt eben unerachtet seiner intellektuellen Fähigkeiten dem Zwang zur Gleichrichtung.

 

 

 

3.6.3          Information und Ressourcenstrom

 

         Alle gesellschaftlich verursachte Veränderung, sei es Bewegung von Menschen, von Massen, von Material oder von Energie kann unter dem Terminus Ressourcenstrom subsumiert werden. Das notwendige Bindeglied zwischen Information und Ressourcenstrom ist die Hierarchie.

 

         Nur die Hierarchie setzt in Kaskaden die sich abwärts von Ebene zu Ebene vermehrende Energie frei, mit der jene durch die Initial-Information beabsichtigte Wirkung erzielt wird. Nur die Hierarchie verwandelt Information in Aktion. Vom Schwung eines Hammers, den die unterste, bis zur Fahrt eines Großtankers, den die oberste Stufe veranlaßt, werden alle Bewegungen in Wirtschaft und Gesellschaft über die Hierarchie gesteuert und aufeinander abgestimmt. Jede Stufe ist auf ihre spezifische Weise an der Umsetzung von Information in Aktion beteiligt. Der Vorstand einer Firma muß die Konjunkturlage verstehen, die Marketingabteilung den Kundenbedarf, die Entwicklung muß im Lauf fortschreitender Materialisierung und Konkretisierung deren Vorgaben modellhaft Gestalt geben können; die Fertigung muß die Zeichnung deuten können, am Band muß man den Meister verstehen. Die Lehren der Revolution, die Signale des Marktes bzw. die Recherchen der Planungsbehörden werden umgesetzt in Anweisungen, Meetings, Kampagnen, Märsche, diese finden Form in Plänen, Verträgen und Orders und die schließlich setzen Munition, Kräne, Lastwagen, Werkzeugmaschinen und Waren in Bewegung.

 

         Wir haben damit die Ebenen, die nach unten mit zunehmender Energie bewegt werden. Das Bild der Energiekaskade vom Knopfdruck zur Lastenbewegung gilt auch in der Gesellschaft; nur ist hier jedesmal noch der Vorgang des verstehenden Umsetzens von der Anweisung in die Aktion, also Information zwischengeschaltet. (Das “Verständnis” in der Maschine ist die bauliche Anordnung, die den Knopfdruck in genau die Arbeit verwandelt, die von ihm beabsichtigt war. Von der Dysfunktion im System “Mensch-Maschine” lebt der Slapstick.) Und parallel zur zunehmenden Energie haben wir, das Gleichnis in der Gesellschaft bestätigend, die Zunahme der gleichsinnig bewegten Menschenzahl.

 

         Der umgekehrte Weg wäre die Wandlung von Aktion in Information. Er findet statt, wenn ein Ereignis (...Unwetter, Eisberg, Revolte...) wahrgenommen und per Boten sozusagen „aufwärts“ den Zuständigen des vermeintlichen Zielorts gemeldet wird. Hier geht es von der Macro-Energie z.B. des Aufmarsches über die mittleren, mit zunehmender Information versetzten Energien der Reitenden bis zur akustischen des letzten Boten, der die Meldung ins Ohr des Potentaten hechelt.

 

 

 

 

 

 

 

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       3.7  Die Hierarchie

              Wandlungen und Zwecke eines Begriffes

 

         Bevor die psychologischen Implikationen von “Hierarchie” untersucht werden, soll ein Gang durch die Ideen- oder Denkgeschichte die Bemerkungen einiger Autoren zum Begriff aufnehmen und - ohne Einordnung in ihr gesamtes System - seine Auslegung und Verwendung zeigen.

 

 

         3.7.1 Die Hierarchie und das Ungesagte

 

         Es gibt wohl kaum einen anderen Begriff als den der Hierarchie, dessen Unausgesprochenes soviel über das verrät, was tief aus dem Inneren des Menschen in den Aufbau der Gesellschaft hineinwirkt. Zurückblickend erkennt man, daß seit vorgeschichtlichen, ja vormenschlichen Zeiten ein Prinzip tradiert wurde, das praktisch ohne Unterbrechung die sozialen Strukturen bestimmt hat. Man muß den Stammbaum der Wirbeltiere bis zu den Fischen hinabsteigen, um allmählich die Fragen von Rang und Führung, von formaler und funktionaler Hierarchie verschwimmen zu sehen.

 

         Obwohl aus der Antike überliefert, wird das Wort dafür selten gebraucht, treibt sein Wesen aber um so virulenter im Verborgenen. Die Stellen in der Literatur sind nicht zu zählen, an denen hierarchische Ordnung einfach vorausgesetzt oder sogar als Ordnung schlechthin postuliert wird. Insbesondere da, wo Über- und Unterordnung einen Wertcharakter annehmen, ohne daß sie einer Begründung zu bedürfen scheinen, zeigt sich ihre Macht. Zu den Selbstverständlichkeiten des Prinzips gehört beispielsweise der Rangunterschied zwischen den Menschen und der Einfluß, der an diesen gebunden ist. Und heute, wo seine Gegner und Verächter sich von seiner (des Prinzips) Tilgung das Heil der Menschen versprechen und wo seine Nutznießer es nicht mehr zu erwähnen wagen, macht es uns alle in Form der Globalisierung zu seinen Opfern.

 

         Plato teilt bekanntlich den Menschen einen Rang zu, der sich bemißt nach dem Besitz von Tugenden. Den Einfluß im Sinne der dynamischen Hierarchie, also die Lenkungsvollmachten möchte er mit diesem Rang verbinden. Da er somit auf die ordnende Macht der abstrahierten Ressourcen (z.B. in Form des Geldes) verzichtet, braucht er diktatorische Vollmachten. Damit ist die judikative Macht, jedenfalls in Bezug auf die so bevorzugten Philosophen obsolet. Wer die höchste Vernunft verkörpert, braucht die Richter nicht zu fragen. “Nicht die Gesetze sollen die Macht haben, sondern der mit Einsicht begabte königliche Mann.” (Politikos 294 b, 296 e)

 

         Er vernachlässigt dabei die Übersetzungsfunktion, die die Wünsche der höheren Ebene mit einer gewissen List in das Weltbild der niederen zu integrieren hat. Cäsar ließ sich zu diesem Zweck nach Thornton Wilder für jede Senatsrede drei gute und drei schlechte Vorzeichen von den Priestern liefern. Plato mußte, um den Mangel der Philosophen an Einfluß zu kompensieren, natürlich auf unbeschränkte Machtausübung der Guten plädieren. So landete er, der keine billigen Politikertricks akzeptieren wollte und damit seinen Tribut an das allgemeine Weltbild verweigerte, in der Diktatur.

 

         Die Abnahme der Mitgliederzahl mit der Höhe des Ranges setzt er voraus, womit die zu Steuerungszwecken erforderliche Form der Pyramide gegeben ist. Es scheint nur wenige Philosophen, d.h. des höchsten Ranges würdige Menschen zu geben, während nach unten die Besetzung der Ebenen stark zunimmt.

 

         Eine Abweichung vom Muster des Enthaltenseins im Enthaltensein der chinesichen Kästchen nach Simon ergibt sich dadurch, daß das Enthaltene nicht nur ein Teil seiner Ebene ist, sondern daß es in seinem Aufbau noch einmal das Ganze spiegelt. Nach Dilthey ist der platonische Staat ein “Mensch im großen”, nach Andreae (“Platons Staatsschriften”, Herdflamme Bd. 6, Teil 2, II. Halbband, S.92 (nach Weippert, S. 30)) der Mensch ein “Staat im kleinen”. Das Muster des „Enthaltenseins“ zeigt seine Grenzen bei der Erklärung der Steuerfunktionen. Plato jedenfalls möchte Rang und Funktion in Einklang bringen. Er teilt das Wunschbild aller Utopien bis hin zur kommunistischen: die Trennung von wirtschaftlicher und politischer Macht.

 

         Nicht nur die Gesellschaft, sondern die Welt schlechthin stellt bei Plato ein vollkommenes Abbild der Hierarchie der Genesis oder der Abstammung dar. Wenn wir sagen, daß die Begriffe sich bilden aus dem, was die wechselnden Erscheinungen Ein- und Desselben als das Bleibende in uns hinterlassen, so ist es bei Plato umgekehrt die Formkraft der Ideen, die das Einzelne bestimmt. Es geschieht die Formgebung nicht als eine Schöpfung, sondern eher als eine Einflußnahme. Die Dinge werden nicht von ihr hervorgebracht, sondern so durch sie bestimmt, daß sie die Idee als Form von Materie wiederspiegeln. Was seinen Rang betrifft, so steht das Einzelne ganz unten und die Idee, der es seine Form verdankt, ganz oben. Insofern ist “Genese” etwas zu relativieren; Plato hat selbst seine Schwierigkeit damit gehabt und von “Teilhabe” gesprochen.

 

         Während bei Plato die Idee von ihrer Höhe herab nicht direkt auf den Menschen (auch nicht auf den Würdigsten) einwirkt, sondern (oben durch Kontemplation gewonnen und nach unten) über verschiedene Stufen vermittelt werden muß, ist sie bei Aristoteles ständig und unmittelbar tätig. Der Immanenzgedanke ist vollendet dadurch, daß die Entelechie (also der - irgendwie - auf das Gegenwärtige einwirkende Endzweck) mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses die Materie formt. Für Plato existiert das Urbild des idealen Staates, dem der wirkliche sich anzunähern hat. Arist. stellt kein Ideal als Ziel auf, sondern einen Zweck, den Zweck des “gemeinen Wohls”, an dem er die Güte des Staates mißt. “Jedes Einzelwesen und jeder Verband unterhalb des Staatsverbandes ist von Natur auf den Staat hin gerichtet.” ([28] S. 40) “Der Zweck existiert von Anfang an. Darum ist denn auch der Staat der Natur nach früher als die Familie und als der einzelne Mensch, weil das Ganze früher sein muß als der Teil.” (Pol. I,2) Vom Standpunkt der Hierarchie beurteilt, haben wir ein zeitliches “Enthaltensein”, bei dem das Formende das Geformte durch ständige Einwirkung bestimmt. Das Formende hat dabei nicht die Gestalt des zu Formenden, auch nicht die End- oder Idealgestalt; es ist etwas ganz anderes, beispielsweise nur der Zweck, die Bestimmung oder sogar ein dem Zweck Übergeordnetes, wie der allgemeine Nutzen, der dann die Zwecke vorgibt.

 

         Eine Selbstverständlichkeit ist auch für Ar. die Über- und Unterordnung der Menschen gemäß ihrem Stande. “Der Herr bedarf der Kräfte des Sklaven, dieser der Leitung des Herren, so daß sich also die Interessen des Herren und des Sklaven begegnen” (Ar. Pol. I,2, nach Weipp. S. 40) Daß ein Sklave möglicherweise ohne Leitung auskommen könnte, ist damals ein völlig sachfremder Gedanke gewesen. Allerdings ist an dieser Stelle daran zu erinnern, daß Leitungs- und Führungsfähigkeit nicht nur in der Antike, sondern auch in der Politik, in allen revolutionären antiautoritären Bewegungen und im modernen Management als konkrete Größe gemessen, beurteilt und zur Entscheidungsfindung über Auf- und Abstieg einer Person in der Hierarchie herangezogen wurden. Wo aber nicht der Erste sondern tatsächlich der Letzte erhöht wurde, wie im Himmel und am Frankfurter Abendgymnasium, da ging es nicht um Ressourcen. Für die sorgten andere.

 

          Die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft findet bei Ar. ihren Ausdruck in der Unterscheidung von Oekonomik (als gemeinschaftsdienend) und Chrematistik (als egoistisch). Der Gedanke vieler Sozialökonomen vom Gemeinwohl des unbeschränkten individuellen Egoismus hat bei Ar. noch keinen Platz. Eher ist die Chrematistik zu sehen als die Hervorkehrung des Warencharakters (im marx’schen Sinne - Weippert, tatsächlich!) am Produkt; jedenfalls sieht jene den Gebrauchs- und diese den Tauschwert. Damit ist das Gute an der Ökonomik identifiziert als seine Passung an das Prinzip der Hierarchie, also als ordnungsbewahrend, während die Chrematistik als das Böse ihre Zerstörung (die von Hierarchie und Ordnung) durch Willkür und Selbstsucht ist.

 

         Die römische Praxis zeigt eine überaus realistische Einschätzung der Wirksamkeit hierarchischer Strukturen. Insbesondere die Effektivität bei Entscheidung und Information, die aus der Zusammenfassung der Macht in einer Person resultiert, wurde von den Römern nach außen gewollt und nach innen gefürchtet. Die Konstrukte, die derart von ihnen aus Furcht und Hoffnung kreiert wurden, gingen zeitweise bekanntlich so weit, daß die Regierenden ihrem Militär zwei Feldherren mitgaben, die täglich die Befehlsgewalt zu tauschen hatten.

 

         Die Bevölkerungsdichte, sowie der technische und personelle Organisationsgrad des römischen Reiches machten es allerdings erforderlich, die oligarchische und die sog. Alleinherrschaft durch eine vielfach abgestufte Beamtenhierarchie abzusichern. In Griechenland konnte ein Alkibiades noch fast jeden, der zu aktivieren war, akustisch erreichen; das war in Rom nicht mehr vorstellbar. Eine noch so zündende Rede konnte dort keine Armee bewegen, wenn die Logistik nicht funktionierte. Nicht zu reden von Verwaltung, Versorgung, Entsorgung, Infrastruktur usw. Will sagen, sowohl Oligarchie als auch Alleinherrschaft sind (wieder wie im alten Ägypten) auf die Mehrstufigkeit des ausführenden Apparates angewiesen. Letztere hängt nicht von der Herrschaftsform, sondern nur von der Komplexität und der Größe der Bereiche ab. Die griechische Bürokratie (wenn man den Ausdruck wegen fehlender Anonymität überhaupt gebrauchen darf) tritt nicht so deutlich hervor, weil die Vollbürger in den Versammlungen noch direkt kommunizieren konnten; ihre Zahl hielt sich durch die starke Trennungslinie nach unterhalb ihrer Ebene in selbstverwaltbaren Grenzen.

 

         Was die Stellung des Sklaven anbetraf, so würde ein Sokrates in Rom niemals einen solchen als Beispiel für absolute Unbildung (zum Beweis der Erklärungsmöglichkeit irrationaler Zahlen) heranziehen können. In Rom konnte es eher passieren, daß ein griechischer Sklave mehr Wissen hatte als die ganze gutgestellte Familie, der er gehörte. Damit war die Hierarchie der Rangfolge (nicht die der Funktion) durchbrochen. Der Sklave war vom sprechenden Werkzeug zum Lehrer, Schreiber, Verwalter, zum kommunizierenden Menschen geworden. Möglicherweise ein Faktor, der die Verbreitung des Christentums zusätzlich beschleunigte. Jedenfalls darf man darüber spekulieren, ob die Erfindung der allgemeinen Menschenliebe sich ohne die Aufwertung des Sklaven durchgesetzt hätte.

 

         “Im himmlischen Staate dienen die Vorgesetzten und die Untergebenen einander in gegenseitiger Liebe.” sagt Augustin. Man wird sein Bürger, indem man das Fleisch, das immer böse geboren (Sündenfall) wird, durch den Willen überwindet. Liebe, aber nicht Eros, sondern Agape, amor dei erhält die Ordnung aufrecht. Amor sui zerstört sie. Eigennutz dient nicht der Gemeinschaft. Der Befehlsstachel (Canetti), das Macht- und Gewaltverhältnis wird in Liebe aufgelöst; das Schema von Oben und Unten wird in ihrem Zeichen nicht mehr als ein Machtverhältnis empfunden und braucht dadurch nicht angetastet zu werden. Das Prinzip der Hierarchie ist auch für Augustinus nicht aufhebbar. Aus Gründen des Ranges, der den Menschen (als Angehörigen einer Klasse, wie man heute sagen würde) zukommt, nicht um der Aufrechterhaltung des Ressourcenstromes, der Produktion, willen. Aber der Schmerz, der mit der Unterordnung verbunden ist und den der Kirchenvater offenbar kennt, läßt sich mildern durch die Liebe.

 

         In der Praxis der tribal organisierten Völker war das Schutz- und Dienstverhältnis allerdings noch unerschüttert und bedurfte der Liebe nicht. Es wird eigentlich durchgehend - vielleicht bis zu den Bauernkriegen (“... als Adam webt und Eva spann, ...”) - nie in Frage gestellt. So war die Ordnung, zumindest die hierarchische, gewährleistet, wenn auch nicht unter himmlischen Verhältnissen.

 

 

         Thomas hatte das Problem, daß inzwischen die allgemeine Menschenliebe als Ordnungsfaktor akzeptiert war. Er mußte damit den Sklaven, der bei Plato noch gar nicht in die Menschheit aufgenommen worden war, in deren Rangskala berücksichtigen. Andererseits konnte er ihn, der als Produktionsmittel unerläßlich war, nicht aus der Rolle desselben entlassen. Er löste das Dilemma, indem er ihm seine Rolle als lebenslängliche anwies, jedoch die christlichen Sakramente zuerkannte.

 

         In der Argumentation erschien die Notwendigkeit der Sklaven als Produktionsmittel nie. Es ging vorwiegend um die Rangfrage, die in einem uns heute als Zirkelschluß anmutenden Verfahren zur Begründung der Funktion herangezogen wurde. Otto Schilling faßt zusammen (“Die Staats- und Soziallehre des heiligen Thomas von Aquin”, Max Hueber Verlag, München 1930, S. 44) “Tatsächlich ist nach Thomas die Sklaverei in sofern Bestandteil des ius gentium, als der moralisch tief stehende dem Überlegenen untergeordnet werden muß,.. ebenso muß das Privateigentum existieren als Einrichtung des ius gentium.” Auch letzteres ist nicht im Sinne eines Produktionsverhältnisses zu bewahren, sondern als Erhalt des Gegebenen, als ein Ordnungsfaktor. So ist auch der Zweck des Staates die Wahrung und Sicherung des Gemeinwohls. Der von Sünde freie Mensch hätte sozusagen direkt von den Geboten der Gottes- und Menschenliebe leben können, der sündige brauchte die daraus abgeleiteten, hierarchisch im Rang tieferstehenden Ausführungsbestimmungen.

 

 

         Grotius:    Am Naturrecht und an der Vernunft zerschellt die Macht Gottes. Die Gesellschaft funktioniert als Mechanismus nach eigenem Gesetz. Die Hierarchie wirkt wie eh und je, nur ihre oberste Spitze ist gebrochen. Das Ordnungsprinzip wirkt in der Gesellschaft selbst und kommt nicht mehr von außen oder von oben.

 

 

         A. Smith:   Selbstinteresse und Gesellschaftsgesetz finden zusammen in prästabilierter Harmonie. Selbstsucht baut die Gesellschaft. Bei Augustin war der amor sui noch das Zerstörende. Er führt über die freie Konkurrenz, geleitet von der unsichtbaren Hand, zum Gemeinwohl.

 

 

         Bentham:  Das Ziel der Gesellschaft ist ein Maximum an Lust. Es wird durch Addition der Lust aller Individuen ermittelt. Nach Weippert eine “Gesinnung der Bilanz” und ein “Geist der Chrematistik” (S. 92). Immerhin leitet sich durch diese Summenbildung die Rücksicht des Einzelnen auf die Anderen ab. Grundsätzlich: “Nature begins and ends with individuals.”

 

 

 

         Die Hierarchie hat Hegel, wie man meinen könnte, im Verhältnis von Herr und Knecht dargestellt. Da sich dabei jedoch nur Personen etwa gleicher Zahl oder eher nur je eine Person gegenüberstehen, ist lediglich ein Dominanzverhältnis abgebildet. Nimmt man es als Gleichnis für den Klassenkampf, so fehlt die Pyramidenform in dem Sinne, daß Herrschaft von Wenigen über Viele ausgeübt wird. Im Hierarchieverhältnis ist die Umkehrung dann praktisch nicht möglich. Es können nicht die Arbeiter über die Kapitalisten herrschen; es können nur die wenigen Beauftragten der Arbeiterschaft über Arbeiter und Kapitalisten die Geschäfte der Lenkung und Verwaltung ausüben. “In Rußland herrscht eine Diktatur über das Proletariat”. Brecht meinte noch eine falsche Auslegung des Marxismus bezeichnet zu haben, hatte aber ein gültiges Hierarchiegesetz formuliert.

 

         Der Knecht, näher am Objekt durch Arbeit, lernt die Handhabung der (Produktions-) Welt und löst dadurch den Herren ab. Was zwischen Adel und Bürgertum geschah, extrapoliert Marx auf das Verhältnis von Kapitalist und Arbeiter. Zweifellos hatte der Bürger die Arbeit, wenn auch eher die der Organisation. Im Wesentlichen war es die Ressourcenlenkung, die er ausübte. Ginge es um die Nähe zum Objekt, dann hätte der Bauer die Macht vom Fürsten übernehmen müssen. Die Macht erhielt aber nicht der Erzeuger der konkreten Werte, sondern der Lenker der Abstrakten. So konnte auch der Arbeiter (gemeint ist die Arbeiterschaft) nicht die Macht vom Kapitalisten übernehmen, sondern mußte sie einer gesonderten hierarchischen Stufe, der Bürokratie (der “Wanze” Majakowskis) übertragen.

 

         Angesichts der Folgen der französischen Revolution und der deutschen Zersplitterung hatte die Ordnung an sich einen Wert erhalten. Die Ordnung aber nicht als Durchsetzung von Gewalt schlechthin, sondern als “Gelten im Bewußtsein”, also eine Norm der Anerkennung, womit die Staatsmacht als “Macht des Vernünftigen in der Notwendigkeit” (Rechtsphilosophie, § 263) und “Macht des Gerechten und Sittlichen” gelten konnte. Ein gültiges Hierarchiegesetz, das implizit die Wirkung der Norm gibt, hatte Hegel a.a.O. ausgesprochen: “Das Ganze ist da, wo die Macht ist; denn die Macht ist die Vereinigung der Einzelnen.” (nach “Hist. WB d. Phil.” 1980, 5, S. 605 oben) Mit den Einschränkungen, erstens: die Vereinigung des Willens all derer, die durch die höheren Hierarchiestufen ihren Ausdruck findet! Divergierende oder differenzierende Wünsche fallen unter den Tisch. Der Träger der Lenkungsvollmacht als eine Einheit kann nicht gleichzeitig etwas tun und etwas anderes oder gar das Gegenteil davon. Zweitens: nur Strebungen, die sich auf den “kleinsten Nenner” bringen lassen, werden wirksam. Und drittens: die Veränderungen und Verdrehungen berücksichtigt, die die Vereinigung der Einzelnen durch die Wünsche und Strebungen, durch die sachte Lenkung der Oberen und nicht zuletzt durch die Machbarkeit, erfährt! Vor allem aber spricht Hegel aus, daß Machtausübung oder Lenkung nur stattfindet, wo sie in einer Institution oder Person konzentriert ist.

 

         Mit dem Altern der Ordnung im Laufe eines Jahrhunderts, mit der zunehmenden Disparität zwischen Privileg und Lenkungsfunktion folgte die Eule der Minerva der Entwicklung vom ordnenden Segen der Hierarchie bis zu dem Punkt, wo “Macht an sich böse ist” (Burckhardt, “Weltgeschichtliche Betrachtungen”, 1929, nach Hist. Wörterbuch der Philosophie 1980, Bd. 5, S. 607). M.a.W. nach einem Jahrhundert hatte sich die Wertung umgekehrt. Jetzt wirkte die Macht gegen die Anerkennung, erhielt sich aber durch Tradierung und Bewährung, u.a. durch die zahllosen Mechanismen, wie z.B. Marx, Freud, Foucault sie ans Licht gebracht haben.

 

         Bei Hegel kann man danach fragen, wie sich die geistigen Bewegungen der Geschichte auf den verschiedenen Hierarchiestufen und nicht nur im akademischen Bewußtsein spiegeln. Wo und wie wirkte der Weltgeist? Hatte der Grenadier Napoleons eine Ahnung von der Aufwertung des Subjekts seit der Reformation und durch die Revolution? Wie war das bei den Spartiaten der Antike und den Bauern von Frankenhausen? Fühlte sich jemand im Gefängnis weniger verlassen vor der kopernikanischen Wende als danach? In welcher Gestalt erschien Woyzek der Weltgeist?

 

 


 

         Karl Marx

 

         Was (Kap. 6.0) unter der Überschrift “Hierarchiebildende Kräfte” allgemein ausgeführt wurde, das hat bereits Karl Marx als “Akkumulation” auf dem Gebiet der Ökonomie gesehen. Er versteht darunter die Ansammlung von Kapital, d.h. von Eigentum an Produktionsmitteln und letztlich wirtschaftlicher Macht / Steuerungsvollmacht in den Händen weniger Personen. Die Mittel werden nicht nur den Angehörigen der arbeitenden Klasse (durch deren Verarmung), sondern auch (durch Konzentration und “Zentralisation”) den kleineren Konkurrenten entzogen. Insofern handelt es sich bei beiden Erscheinungen um eine typische Bildung der wirkenden Hierarchie, die, graphisch dargestellt, mit der Erhebung der Spitze und der Einschnürung der Mitte, wie in Abb. 7b gezeigt, vor sich geht.

 

         Als problematisch gilt in diesem Zusammenhang die Voraussage von Marx bezüglich der Verelendung der arbeitenden Massen. Tatsächlich haben sich die Lebensverhältnisse der abhängig Beschäftigten in großen Teilen der industrialisierten Welt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts - nur unterbrochen durch die Weltkriege - verbessert. Dabei unterschlagen wir allerdings die Kriegszeiten, die als Folgen des Wachstumszwanges vom Wohlstand abgerechnet werden müssen. Sie sind die Konvulsionen des Beschleunigungsprozesses, sie sind die Stellen, an denen der innere und äußere Organisationsgrad überkippt, getrieben von der Verdichtung.

 

         Und zweitens hat die Verelendung eine solche Verbreiterung ihrer Basis erfahren, daß sie aus dem Blickfeld gelaufen ist. Zunächst sehen wir weiterhin die verallgemeinerte Akkumulalation in Form der hierarchiebildenden Kräfte am Werk; nur müssen wir berücksichtigen, daß sie jetzt weltweit wirken und damit die Ressourcen aus den übrigen Teilen der Erde, den sog. Entwicklungsländern absaugen. Die Verelendung findet statt, wie von Marx beschrieben, ist aber auf die nächstniedere und weit größere Ebene der Armen in aller Welt verlagert worden. Sie ist nur dort verzögert, wo noch Subsistenz in die Verwertungsökonomie hineinwirkt. Durch die Globalisierung, deren erste Merkmale mit der weltweiten Kolonisierung erscheinen, ist die ganze Menschheit in die weltökonomische Hierarchiepyramide integriert worden.

 

          Der Hunger im Sahel mag zunächst durch lokale Verdichtung, ohne die Möglichkeit entsprechender Steigerung des Organisationsgrades, entstanden sein. Medizin und das Verbot gewisser inhumaner und kriegerischer Praktiken überlasteten schnell die Subsistenzwirtschaft. Damit wurde auch der Sahel erst in die überregionale und dann in die Weltwirtschaft gezwungen.

 

         Mit der Globalisierung wurden, einmal auf Kosten der Zukunft und zum anderen auf Kosten der “Unentwickelten” die Folgen der Akkumulation und Zentralisation in den Industrieländern gemildert. Obwohl also die Verelendung nicht dort eingetroffen ist, wo sie vorhergesagt wurde, ist ihr Prinzip vollständig erhalten. Sogar die “Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarktes” wurde wörtlich prognostiziert (Marx, “Kritik der politischen Ökonomie”, Kap.: “Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation” cit. nach Negt, “Marx” bei Diederichs 1996, S. 113) und in den Zusammenhang der Zentralisation, sprich der hierarchiebildenden Kräfte gestellt.

 

 

         Ausdehnung der Bereiche

 

         Im selben Kapitel (s.o. “Marx”) wird auch die Entfesselung der Produktivkräfte durch Vergrößerung der gestaltbaren Bereiche dargestellt. “...Kooperation, Teilung der Arbeit innerhalb derselben Produktionsprozesse, gesellschaftliche Beherrschung und Regelung der Natur, freie Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte...” oder “...Verwandlung der individuellen und zersplitterten Produktionsmittel in gesellschaftlich konzentrierte, daher des zwerghaften Eigentums vieler in das massenhafte Eigentum weniger...” Die Produktivkräfte wachsen mit den Produktionseinheiten. Sie können topologisch weiter ausgreifen. Tankschiffe und Pipelines, Informationsnetze und Satelliten bilden ein Netz, das den Globus umspannt. Mittelbar werden vom Zentrum der Welt-Wirtschaftsvormacht alle Ressourcenströme gesteuert.

 

         Dies hat zur Folge in den Worten unserer Darstellung die “Beschleunigung des Ressourcenstromes”. Im Kapitel über den Doppel- und Fetischcharakter der Ware deutet sich schon die Bedeutung des Ressourcenstromes für die Produktion an: “In dieser Arbeit der Formung selbst wird er (der Mensch) beständig unterstützt von Naturkräften. Arbeit ist also nicht die einzige Quelle der von ihr produzierten Gebrauchswerte des stofflichen Reichtums.” Die natürlichen Grenzen der “Naturkräfte” bzw. des Energiestromes waren bezüglich der Versorgung von Marx bereits realisiert worden (und Weber: “... die letzte Kohle verglüht ist”). Die Entsorgung ihrer Endprodukte, die heute das Überlebensproblem (nicht nur der Menschheit, sondern des gesamten irdischen Lebens) schlechthin ist, spielte jedoch allenfalls ganz lokal eine Rolle.

 

         Mit dem massiven Auftreten des Entsorgungsproblems verbietet es sich übrigens, vom “Wirtschaftskreislauf” zu sprechen. Ökonomische Abstrakta können nicht zurückgezahlt, aber sie müssen mit konkreten ökologischen Verlusten abgegolten werden. Die Telefongespräche der Broker, die unmerklichen Impulse im Weltnetz, das Insidergeflüster, die Buchgewinne und Papiere sind auf der untersten Hierarchiestufe in Form ungeheurer mehr oder weniger nützlicher Warenmengen, als Megatonnen an CO2, als Schwermetalle und Atemgifte, als Furcht und Elend angekommen. (S. Abb. 8, “Abstrakta-Konkreta” unterster Balken; Reservoir und Deponie) Und das kauft keiner wieder auf. Der Kreis wird nicht geschlossen.

 

         Zum Schluß dieses Kapitels sollen zwei Autoren besprochen werden, die den Begriff “Hierarchie” direkt und bewußt zu ideologischer Verwendung nutzen, der erste (um 1930) zur Rechtfertigung des Führerprinzips, der zweite (um 1970) zur Heiligung der Kirche. Welche Momente des Begriffes dabei hervorgehoben und welche verbogen oder verborgen werden, ist charakteristisch für die jeweilige Intention.

 

 

         Weippert

 

         Die bisherigen Ausführungen waren der o.g. Dissertation von Weippert in einigen Punkten zeitlich lose gefolgt, ohne ihr inhaltlich zuzustimmen. Immerhin hat er nicht nur eine beträchtliche kompilatorische Arbeit geleistet, sondern in seinem Sinne auch Zusammenhänge hergestellt. Durchgehend verfolgt er beispielsweise den Begriff der EMANATION, hier der “Hierarchie der Genese” oder der Formgebung, der Abkunft, des Ausfließens, der Hervorbringung. Je näher er jedoch seinem Ziel, der Rechtfertigung des Ständestaates zum Zwecke der Führerschaft kommt, desto lapidarer werden seine Begründungen. Es mag sogar fraglich sein, ob er seine Schlußfolgerungen überhaupt ernstgemeint oder sie nur irgendwelchen zeitgenössischen Sichtweisen angepaßt hat. Da aber die Begründungszusammenhänge solcher Qualität und Art zu jener Zeit Allgemeingut waren, sollen sie dargestellt werden, ohne die angedeutete Frage weiter zu untersuchen.

 

“Der Ständestat bleibt zu jeder Zeit die Norm des sozialen Lebens.” [28] Im Stand findet jeder, sofern er nicht zur Führung berufen ist, gewissermaßen seinen Frieden, seine leicht geminderte Vollendung. Klassen kämpfen um Alleinherrschaft, Stände ordnen sich zum Ganzen, Demokratie zersetzt es. Weippert spricht nicht von Funktionen, er spricht für die “Ordnung an sich”, verkörpert durch eine Hierarchie der Ränge. Rational wäre diese zu begründen durch ein Ende der Rangkämpfe, wie Biologen es für den Erhalt tierischer Sozietäten postulieren. Weippert sieht aber durch sie das Führerprinzip gewährleistet. Ebd. S. 167: “Hat man sich nämlich zum Prinzip der Stimmenmehrheit entschieden, dann hat man auch den Führer ausgeschaltet.” Eine Extrapolation: erkennt man Ränge an, dann muß es auch einen obersten geben. Da W. dies Prinzip rein darstellen möchte, wird natürlich auch dessen Risiko übernommen, ohne es allerdings zu erwähnen. Für den Führer gibt es keine demokratische oder oligarchische Kontrolle. Die Steuerung ist effektiv, aber auch die Fehlsteuerung.

 

Auf der Suche nach den Eigenschaften, die die Wenigen haben müssen, um zu Führern und Lenkern der Vielen zu werden, die diese Eigenschaften nicht haben, muß man sich sehr bescheiden. Zunächst ist in der Dissertation kaum eine Angabe darüber zu finden, worauf der Führer seinen Anspruch gründet. Nur indirekt läßt sich einiges erschließen. Es sind nämlich nicht Intelligenz, Moral oder Organisationstalent, die zur Führung befähigen und auch andere Vorzüge gehen aus den Ausführungen nicht ohne weiteres hervor. “Die Überbewertung der Fertigkeit, der sachgewandten Klugheit führt in der modernen Zeit zur fast ausschließlichen Herrschaft des Funktionärs und zur Kaltstellung der eigentlichen Führerpersönlichkeit.” Zwar wird das Führertum hauptsächlich durch das Sein verbürgt (S. 163 oben), doch sollen damit trotz ihres Gewichts nicht Geburt und Herkommen zum alleinigen Gradmesser gemacht werden. Ein Satz gibt schließlich Auskunft: (ebd.) “...es ist der Führer nötig, der das Bild dessen in sich trägt, was er gestalten will.”

 

Nun fragt man sich natürlich nach dem Inhalt jenes Bildes. Es scheint aber keine Eigenschaften zu geben, die es zum Leitbild des Führers prädestinieren. Auch der Inhalt desselben wird nicht präzisiert. Sollte es sich, was auf Grund der vorangegangenen Ausführungen nahe liegt, um das Bild des Ständestaates handeln, so läge ein Zirkelwunsch vor, da ja der Ständestaat wiederum die Aufgabe hat, den Führer zu ermöglichen. Damit entgleitet die Arbeit, die das Thema Hierarchie bis dahin ausführlich und sorgfältig wenn auch einseitig eruiert hat, ins Irrationale. Es sei denn, man wertet die Eigenschaften des Ständestaates so hoch, daß man in jedem Stand sein Genügen findet. Dazu gehört aber ein mittelalterliches Weltbild.

 

Wäre aber ein Bild schlechthin gemeint, kämes es lediglich auf den Gestaltungswillen unabhängig vom zu Gestaltenden an, dann hätten wir die absolute Willkür, den Führer um des Führers Willen, also einen weiteren Zirkel. Die Arbeit darf aber als ein typisches Stimmungsbild für die Situation in und nach der Weimarer Republik als einer Zeit der Orientierungs- und Entscheidungslosigkeit gewertet werden. Jener hier im Kap. “Psycholologie der Hierarchie” entwickelte Gedanke, daß unter Druck nicht mehr nach der Art einer Entscheidung, sondern nach einer Entscheidung oder Tat an sich, nach einer Änderung oder Richtungsweisung überhaupt gefragt wird, findet hier seine Bestätigung.

 

Oder: wenn wir berücksichtigen, daß es durchaus Entscheidungen gab, sogar sehr laute und sehr radikale, dann verstehen wir, warum eine Tendenz wuchs, sich gerade der entschiedensten, der lautesten und dann der mehrheitlichen Entscheidung anzuschließen. Erst die Mehrheitsbildung erlaubte es ja, sich in eine Richtung gemeinsam zu bewegen. Für Weippert gibt es von vornherein nur den Einen, so daß er nicht auf die Idee kommt, Auswahlkriterien für Führer bereitzustellen. Da sich aber immer viele berufen fühlen, muß man natürlich nach dem Weg fragen dürfen, auf dem die empirisch nachweisbaren Führer gekommen sind. Und da gibt es schon so etwas wie ein Bild, besser eine Konsequenz, die Erlösung vom Durcheinander verspricht, die das mit existentiellen Nöten verbundene Dauerchaos beendet. Obwohl wir also den Zweck des Führers getrost vergessen dürfen, haben wir, Weippert folgend, seine Ursache bestätigen können.

 


 

 

         Dombois,

 

         “HIERARCHIE

         Grund und Grenze einer umstrittenen Struktur”

         Herder 1971

 

         Welche Absicht das Werk leitet, geht bereits aus dem ersten Satz des Vorworts hervor. Es wird geschrieben “in einer Zeit, welche alle Formen der Autorität, darüber hinaus aber schon die Verbindlichkeit konkreter Strukturen in Frage stellt.” Obwohl “zum ersten Mal... eine so große geschichtliche Form... dem positiven wie dem negativen Tabu entnommen und rationaler Reflexion unterworfen” (S. 9) wird, driftet die Beschreibung des Phänomens in Richtung auf eine Wertbetrachtung, in der Status, Würde und Kompetenz die Richtung bestimmen.

 

         Mit dieser Intention ist eine Analyse der Struktur kaum möglich. So verwundert es nicht, daß erst das Merkmal der Mehrstufigkeit die Hierarchie bestimmen soll. S. 16: “Eine hierarchische Ordnung besitzt mehr als zwei Stufen...” Zwei Stufen sind bei Dombios aber der Hordenführer und das Mitglied der Horde ohne einen Mittler dazwischen - also bei uns die einstufige Hierarchie. Eine Stufe verbindet ja gewöhnlich zwei Ebenen, weshalb beide nicht in ein- und derselben Struktur die gleiche Anzahl haben können (S=E-1). Somit hat eine Stufe zwei Ebenen, was nach allgemeinem Verständnis immer noch eine Hierarchie ist. Die hier geübte Kritik richtet sich also erstens gegen die Verwechslung von Stufen und Ebenen und zweitens gegen die Beschränkung des Begriffs “Hierarchie” auf mehr als zwei Ebenen. Geht man von der bereits in IIa. entwickelten Funktionsweise von H. aus, so ist diese auch in der einstufigen Form exakt gegeben - eine Information kann dort ebenso zur Aktion, ein Befehl zur Ausführung werden, wie beim Durchlaufen mehrerer Stufen. Dombois aber braucht mindestens zwei Stufen / drei Ebenen (bei Dombios drei Stufen), d.h. einen Mittler, auf den es ihm ankommt, zwischen Ursprung/ Steuerung/Führung und ausführender Ebene.

 

         Dieses wichtige, aber für die Lenkungsfunktion sekundäre Moment der Hierarchie erhält zweifellos sein Gewicht dadurch, daß von ihm die Mittlerfunktion der Kirche zwischen Gott und Laienschaft abgeleitet wird. Dort auf den Zwischenstufen soll die “Gleichzeitigkeit von Dienen und Herrschen” stattfinden. Des Autors Ziel ist es offenbar, der Hierarchie mit der Betonung auf “heilig” eine besondere Würde zu verleihen. Die Heiligung einer Struktur begründet die Heiligkeit der in ihr verankerten Institution. So kann er mit Hilfe einer “Dychotomie” die Laienschaft von der eigentlichen Hierarchie der Kirche trennen und sie im Regen einer verminderten Würde stehen lassen. In der pöbelfernen Diktion der Adenauerzeit hört sich das so an: ([29] S. 17 unten) “Hierarchie bezieht sich immer auf einen sie selbst transzendierenden Grund, die arché. Hierarchie ist niemals selbstgesetzlich, autonom, selbstzwecklich, Selbstdarstellung eines so verfaßten Gemeinwesens... In einer grundsätzlich bedeutsamen Dychotomie steht sie einem nicht hierarchischen Personenkreis gegenüber, wie etwa klassisch in der Scheidung von Klerus und Volk oder Laien. Arché, Hierarchie und nichthierarchische Basis bilden eine aufeinander bezügliche Dreiheit, in welcher Hierarchie als Ganzes ein Mittelglied darstellt - als Vermittlung von oben nach unten wie als Weg des Aufstiegs von unten nach oben.” Hier wird die Hierarchie so sehr geheiligt, daß Dombois die minder würdigen Ebenen, die eigentlich ihre konstituierenden Bestandteile sind, mangels Heiligkeit ausscheidet.

 

         In schönen Worten (S. 25 unten) - “Ihre Konnexität” - wird definiert, was kürzlich weithin als Seilschaft bekanntgeworden ist: “Damit ist der innere Zusammenhang gemeint, der ein ständiges Band der wechselseitigen Loyalität begründet. Es ist also weit mehr erforderlich als die sogenannte ‘Gehorsamschance’. Die oben beschriebenen Rechtsbegriffe des Status und der Substitution (der eigenen Entscheidung durch die befohlene) zeigen diese gegenläufige Verknüpfung von Unterordnung und Solidarität... wenn auch der unterste Träger der Hierarchie ... sich als Mitträger und zugehörig versteht.”

 

         “Die Entscheidungen... werden ferner nicht begründet, damit aber gerade sekundär auslegbar bis zur entlastenden Uminterpretation.” ([29] S. 27) Das ist widersprüchlich. Die Intention des Autors, nach der (ebd.) “Hierarchie nicht vom Autoritätsverhältnis her zu bestimmen” sei, kann mit solcherart Geheimbündelei nicht aufrechterhalten werden. Wird eine Entscheidung nicht begründet, dann gibt es auch keine “sinngemäße” Befolgung und schon gar keine Uminterpretation mehr. In diesem Fall könnte sich der Ausführende nur auf die umfassende Bereichsnorm zurückziehen. Was gibt aber die Religion der Liebe her, wenn es um den Bestand der Kirche geht? Was, wenn sich der Gehorsam ständig entlasten kann? Konnexität und Autorität zugleich - so wäscht man den Pelz, ohne naß zu werden.

 

         In der Zusammenfassung (S. 28) wird endlich ein funktionales Moment der Hierarchie gewürdigt. “Hierarchie verbindet Ursprung und Gegenwart im Blick auf ein vorgegebenes Ziel.” In unseren Worten ist damit der Weg von der Information zur Aktion im Sinne der Norm unter einer Zielsetzung oder als Entelechie beschrieben. Allerdings wird nicht vom Bereichserhalt als Sinn der Aktion gesprochen, sondern vom Ursprung, also der Bereichsnorm als ihr Bewegungsgesetz. Das wäre im o.g. Beispiel der Inhalt der Verkündigung, der sich aber von weit außerhalb aus der Transzendenz hereinwirkend, für das praktische Agieren des Bereichs Kirche und seinen Erhalt als Störfaktor erweisen kann. Ziel und Gesetz fließen dort zusammen wo die Bewegung auf das Ziel gerichtet wird. Der Bereichserhalt erfordert jedoch, wie schon mehrfach bemerkt, das Ziel oder die Norm gelegentlich zu vergessen.

 

         Während zB Michels der Hierarchie in den Parteien ein ganzes Buch widmet, wobei er dort die jesuitischen Strukturen gerade in den sich anti-hierarchisch gebenden nachweist, kann Dombois jenen (den Parteien) den allgemeingültigen Status der Hierarchie wegen seiner Heiligkeit nicht so ohne weiteres zusprechen. Er macht seine Zumessung abhängig von dem Gehalt der Norm, des Ursprungs. Nur Parteien sind des hierarchischen Status würdig, die dem Ganzen dienen, also eine staatstragende Rolle spielen. Desgleichen gelten die faschistischen Parteien ihm als “pseudohierarchisch” weil ihre Norm irrational ist. Die Struktur ist damit wieder einer Wertbetrachtung unterworfen worden. Oder: die strikteste Ausprägung der Hierarchie fällt nicht unter ihren Begriff, weil ihre Träger die falschen Inhalte vertreten.

 

 

         Foucault, (“Überwachen und Strafen”, Suhrkamp Taschenbuch 2271, 1994, erstmals 1977) der die Mechanismen der Macht untersucht, sieht die Funktion der Bestrafung als von den Produktionsverhältnissen bestimmt. S. 36: in der Sklavenwirtschaft ging es um die Beschaffung von Arbeitskräften, in der Feudalzeit standen im Hinblick auf Erreichbarkeit im Sinne von Zugriff die Körperstrafen im Vordergrund. Die Forderung nach einem freien Markt der Arbeitskraft im industriellen System führte zu Internierungen zum Zwecke der Besserung, hier der Abrichtung für extrem arbeitsteilige Tätigkeiten.

 

         Detailliert geht Foucault auf die Wendung der Justiz vom Körper zur Seele ein, die mit der beginnenden Industrialisierung zusammenfällt. Sieht man diese als einen Übergang vom Zwang hin zur Motivation, so läßt sich eine solche Tendenz über einen weit größeren Zeitraum, nämlich von der Antike bis zur Moderne verfolgen. Den Weg zur Motivation ebnete eine (scheinbare,) subjektiv wahrnehmbare Vergrößerung der gestaltbaren Bereiche. Motivation ist hier als die Kunst genommen, die fremdes Interesse in ein individuelles Teilziel verwandelt.

 

         M.a.W. eine Art Fortschritt zeigte sich im Tausch von physischer Einschränkung gegen geistige Kanalisierung. Der Sklave war vielfach, jedenfalls bei den schweren und unangenehmen Arbeiten, an seinen Arbeitsplatz angekettet oder der Aufseher mit der Peitsche war nicht weit - der Überwachungsaufwand war fast so hoch wie der gewünschte Effekt.

 

         Der Kolone und der Leibeigene dagegen hatten bereits “ihr” Stück Land, für dessen Bestellung sie verantwortlich waren und worauf ihnen eine gewisse Entscheidungsfreiheit eingeräumt werden mußte. Sie wurden noch effektiver, als sie Geld statt der Naturprodukte abliefern mußten; damit waren sie nicht nur für die Produktion, sondern auch für den Vertrieb verantwortlich. Der freie oder von allem befreite Industriearbeiter der Neuzeit konnte sogar “seine” Firma aussuchen und war damit topologisch weit weniger gebunden als der Bauer. Der moderne Vernetzte schließlich ist auch noch von diesem Arbeitsplatz unabhängig. Was allerdings die genannte Gestaltbarkeit anbetrifft, so handelt es sich von Anfang an bei allen bereits um eine buchstäbliche Scheinselbständigkeit; obwohl die Zwänge immer mittelbarer werden, gehen die Sanktionen auch hier bis zum ökonomischen Existenzverlust. Die abstrahierten Werte haben die Peitsche vollständig und hochwirksam ersetzt. Die Strafe ist unpersönlich und so mittelbar, sprich indirekt, daß sie eher als ein Unglück erscheint, das nicht von den Lenkern, den Betroffenen oder den Nutznießern ausgeht, sondern von den Verhältnissen. Kurz, die körperlichen Einschränkungen werden immer geringer, während die aufs Ziel gerichtete Bewegung, die Selbstkanalisierung, immer genauer zu erfolgen hat. Das Ziel ist das Produkt, der Umsatz, der Gewinn, hervorgebracht durch einen Komplex von Bewegungsfolgen und erst am Ende gerechtfertigt durch den Markt.

 

         Will man der Gegenwart noch eine gesonderte Bewertung erteilen, dann findet man nun die Isolierung und Aussonderung der Überflüssigen in Chaos und Vernachlässigung gegen eine immer höhere Disziplinierung der Nützlinge.

 

 

         Die Disziplinierung

 

         Eines der grundlegensten Mittel zur Installation und Festigung von Macht ist die Disziplinierung, die Foucault im Kapitel “Die Mittel der guten Abrichtung” (S. 220, ebd.) genauestens analysiert. Er schildert den Aufbau von Lagern als “Kontrollmaschinen” (“Das Lager ist die Raumordnung einer Macht,...”, S. 222 oben), die “normierende Sanktion” (S. 229) als wissenschaftlich ermittelten und autoritär zu vermittelnden Durchschnittswert des Verhaltens und fragt schließlich: (S. 250) “...traut man ... der Disziplin nicht zuviel zu, wenn man ihr [ihnen] solche Macht zuspricht? Wie ist es möglich, daß sie so unabsehbare Wirkungen auslösen?” Diese Frage trifft das Wesen der Disziplin als eine Bedingung der Möglichkeit von Hierarchie und kann nach allem, was bisher entwickelt wurde mit “nein, man traut ihr nicht zuviel zu” beantwortet werden. Die Disziplin als innere Kanalisierung und ein Teil des Könnens verleiht eben genau die Macht, im Verein mit der Hierarchie unabsehbare Wirkungen auszulösen.

 

         Wie bei einer Vielzahl von Autoren findet man auch bei Foucault in der Begründungskette mehrfach das Phänomen der Verdichtung aufgeführt, ohne daß es in einen systematischen Zusammenhang gestellt wird. Dabei beschneidet erst Verdichtung als außermoralisches, strukturelles und strukturbestimmendes Moment die Alternativen soweit, daß Disziplinierung möglich ist und wirken kann. Wer gehen kann wohin er will, unterwirft sich nicht der Disziplinierung. Wird der Einfluß der Verdichtung auf den Organisationsgrad (bzw. auf das Maß der Unterdrückung) vernachlässigt, fällt die Macht der Struktur jenseits von Ressourcen, Bosheit und Verblendung gewissermaßen unter den Tisch. Das Credo der kritischen Philosophie, ausgesprochen vom Hollywood-Schauspieler Mel Brooks: “Wenn alle Menschen sich einer Psychoanalyse unterzögen, gäbe es keine Kriege mehr” findet bei F. unausgesprochen seine Reindarstellung. Auch das Eigeninteresse des Individuums an der Gleichrichtung als Folge des Druckes scheint es bei F. nicht zu geben. Damit wiederum entfällt der empirisch überall nachweisbare Einfluß der Verdichtung auf den Organisationsgrad als gesellschaftlich wirksame Kraft.

 

         Wenn überhaupt eine psychologische Betrachtung von Wert ist, dann diejenige, daß der Wunsch nach Gleichrichtung durchaus dem Wunsch nach einer bestimmten Richtung widersprechen kann. Wird eine bestimmte Richtung lediglich individuell präferiert, so ist kaum Bewegung möglich. Es enden so viele gegeneinanderlaufende Versuche in Enttäuschung, daß ein allgemeiner Frust sich verbreitet (wie in der Weimarer Republik). In einem schmerzhaften Prozeß lernt das Individuum: dieser Frust ist nur zu überwinden durch Gleichrichtung. Ein Frust gegen den anderen: erst die Aufgabe der gewünschten Richtung ermöglicht Bewegung; das Individuelle muß preisgegeben werden. Und bei steigendem Druck siegt immer die Gleichrichtung.